Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
seine Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepreßt hatte. In den Wochen, die sie zusammen nach Shamban gereist waren, hatte sie diesen Ausdruck zu deuten gelernt. Kandar dachte angestrengt nach. Luma verfiel in Schweigen, weil sie ihn nicht beim Nachdenken stören wollte, und sie gingen weiter, nur von dem knirschenden Geräusch der Muscheln unter ihren Füßen begleitet. Inzwischen waren sie fast am Haupttor der Stadt angekommen. Das Tor bot einen beeindruckenden Anblick: gezimmert aus sechs massiven Eichenbalken, jeder einzelne so dick wie der Körper eines Mannes. Die hohen weißen Mauern zu beiden Seiten, die in dem intensiven Licht der Frühlingssonne fast bläulich schimmerten, bestanden aus roh behauenen Steinen von der Größe von Pferdeköpfen. Luma betrachtete sie und dachte dabei, daß es nirgendwo in sämtlichen Mutterländern Mauern wie diese gab. Sie waren hoch und stark und dick, und sie schützten die Stadt, hatten aber zugleich etwas Abweisendes. Alles, was die Shubhai-Nomaden bauten, war nützlich, aber nur sehr wenige dieser Bauten waren ein ästhetischer Anblick; und als Luma näher an die Stadtmauer heranging, ertappte sie sich dabei, wie sie voller Heimweh an die weißen Mauern von Shara dachte. In Shamban hieß keine Schlangengöttin die Reisenden willkommen, die sich der Stadt näherten. Diese Mauern sprachen nur von Bedrohung, Mißtrauen und der Gefahr einer Belagerung.
Luma wandte ihre Aufmerksamkeit den Leuten zu, die durch das Tor ein- und ausgingen. Hier schlug das Herz von Shamban noch immer voller Freundlichkeit und Offenheit, und Fremde wurden willkommen geheißen. Ein blonder, tätowierter Nomade schlenderte vorbei, unbewaffnet und in die dunkle Tunika eines shambanischen Priesters gekleidet. Als nächstes eilte eine Shambanerin durch das Tor, die einen Korb mit Kohlköpfen auf dem Kopf balancierte und sich einen Schal vor das Gesicht zog, als ob sie Nomadin wäre. Höchstwahrscheinlich war sie mit einem Nomaden verheiratet. Ein Junge und ein Mädchen, das eine Kind Shambaner, das andere Shubhai, zockelten lachend und Hand in Hand hinter ihr her. Auf ihren Fersen folgte eine Priesterin in schwarzer Robe, dann eine Frau mit einem Fischernetz über der Schulter, drei junge Nomadenfrauen, die von den Feldern kamen und Körbe mit frischem Dung schleppten, und ein kleiner, ziemlich dicker Mann, der den Fellumhang und die Filzbeinlinge eines Steppennomaden trug, dessen Gesicht und Haltung jedoch verrieten, daß er in den Mutterländern geboren war, und dessen Tragekorb aus Weidengeflecht erkennen ließ, daß er Händler war.
Der shambanische Shubhai-Krieger-Händler nickte Kandar und Luma im Vorbeigehen freundlich zu. Als Luma seinen Gruß erwiderte, ertappte sie sich bei dem Gedanken, daß die Begegnung von Nomaden und Mutterleuten von einer Farbigkeit und Komplexität geprägt war, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. Sie fragte sich gerade, wie weit diese friedliche Verschmelzung wohl gehen würde, als Kandar plötzlich stehenblieb.
»Komm her«, sagte er. Luma ging zu ihm, und zu ihrer Überraschung schlang er ihr einen Arm um die Schulter und führte sie zu einem Seitenpfad, wo sie sich ungestörter unterhalten konnten. Kandar hatte noch nie zuvor den Arm um sie gelegt, und sie war leicht beunruhigt, als sie neben ihm herging. Es war eine freundliche, kameradschaftliche Geste, aber Luma wußte, sie bedeutete, daß er ihr etwas sehr Ernstes zu sagen hatte, und sie hatte das ungute Gefühl, daß es ihr nicht gefallen würde.
Sie wanderten an ein paar windschiefen Shubhai-Zelten aus Leder und braunem Filz vorbei, dann an einem traditionellen shambanischen Mutterhaus, rund und niedrig und mit leuchtenden, purpurfarbenen und gelben Schmetterlingsblumen bemalt. In der Eingangstür saß ein Mann, der damit beschäftigt war, eine Spindel zwischen zwei Fingern zu drehen, während zu seinen Füßen ein kleines Mädchen spielte.
»Laß uns weitergehen«, schlug Kandar vor.
Sie schlenderten weiter, bis sie zu einem Haus kamen, das im neuen nomadischen Stil erbaut war. Es war quadratisch wie die Häuser von Shara, seine Mauern waren jedoch nicht verputzt und bemalt, sondern bestanden lediglich aus rohbehauenen Holzbalken, die Ritzen hatte man mit Ton abgedichtet. Luma fiel auf, daß der Erbauer dieses Hauses, wer immer er auch sein mochte, den Weitblick besessen hatte, ein Rauchabzugsloch einzuplanen; aber abgesehen davon wirkte das Haus ungefähr so einladend wie ein Kuhstall,
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