Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
Shamban übergesiedelt und etwas zivilisierter geworden waren, hatten die Shubhai, so wie alle Nomadenstämme, ihren Göttern sogar Menschenopfer dargebracht. Vor langer Zeit war Lumas eigene Mutter einmal um ein Haar dem nomadischen Sonnengott geopfert worden, ebenso wie Aita Stavon und Onkel Arang. Luma dachte an die alte Geschichte zurück, die sie zum ersten Mal gehört hatte, als sie noch so klein war, daß ihre Füße in der Luft baumelten, wenn sie auf einem Stuhl saß – wie Tante Hiknak in der allerletzten Sekunde herbeigeritten kam, um Marrah und die anderen vor Changars Würgeschlinge zu retten.
Dann musterte sie die andere Statue, die neben Chilana stand und die ihrer Ansicht nach den Tempel entweihte und ihn zu einem Ort machte, der es nicht wert war, verehrt zu werden.
Die zweite Statue war nicht aus Stein gemeißelt. Sie war das Skelett eines Menschen, eingebettet in gebrannten Ton. Jeden einzelnen Knochen hatte man in Gold getaucht. Er glitzerte gespenstisch in dem matten Licht, und seine leeren Augen starrten mit bösartiger Idiotie auf die Tempelbesucher herab. Mit dem einen fleischlosen Arm hielt er das pferdeköpfige Zepter eines Nomadenhäuptlings, während man seinen anderen Arm um Chilanas Statue gelagert hatte, so daß es den Anschein erweckte, als umarme er sie. Ein blanker Dolch steckte in dem Spalt in dem Altarstein zu seinen Füßen, und an seinem Skelett waren dünne Silberstreifen befestigt, die in alle Richtungen ausstrahlten, so daß er im Mittelpunkt eines Blitzstrahls zu schweben schien.
Luma wußte, der Dolch und der Blitzstrahl bedeuteten, daß das Skelett Han, den Gott des Leuchtenden Himmels, darstellen sollte, und daß dieser Tempel, einst der Göttin Chilana geweiht, jetzt auch Hans Tempel war. Sie haßte die Art, wie sich die beiden Religionen mehr und mehr miteinander vermischten. Als sie das vergoldete Skelett betrachtete, dachte sie, daß Han dabei das weitaus bessere Geschäft gemacht hatte. Chilana hatte Han zwar in einen etwas milderen Gott verwandelt; doch alles, was Han im Gegenzug für Chilana getan hatte, war, daß er tote Lämmer in ihren Tempel brachte – ganz zu schweigen von den Pferden, die, wenn man den Gerüchten Glauben schenken konnte, jetzt an allen neueingeführten Sonnenfeiertagen heimlich auf diesem Altar geopfert wurden. Kein Wunder, daß die alten Priesterinnen und Priester fast alle voller Empörung gegangen waren. Luma hatte gehört, daß sie die Schmetterlingsgöttin jetzt in den Wäldern und auf Wiesen anbeteten, wie in grauer Vorzeit, als es noch keine Tempel gab. Aber die jungen Shambaner kamen in hellen Scharen in die Tempel, um Opferrituale wie dieses mitzuerleben. Sie waren überzeugt, daß nur die vereinten Kräfte von Chilana und Han die Stadt davor bewahren konnten, ein zweites Mal von den Stämmen, die noch immer in großer Zahl aus der Steppe herbeiströmten, in Schutt und Asche gelegt zu werden.
Was der Grund ist, warum ich jetzt derart in der Klemme stecke, dachte Luma. Als Kandar nämlich als Händler verkleidet nach Shamban aufgebrochen war, hatte Marrah ihm strikte Anweisung erteilt, seine wahre Identität geheimzuhalten und sie niemandem außer Nikhan, Häuptling der Shubhai, zu enthüllen. Denn die Sklavenhalter wären durchaus imstande, Kandar umzubringen, wenn sie dahinterkämen, daß er aus Shara geschickt worden war, um sie zu bespitzeln. Marrah hatte ihm erklärt, Nikhan sei aufgrund eines vor langer Zeit geleisteten Treueschwures Stavan gegenüber zu Loyalität verpflichtet, und er und seine Krieger kämpften auf der Seite der Mutterleute. Vor einigen Jahren hatte Nikhan die Königin von Shamban auf Nomadenart geheiratet, und die Händler hatten berichtet, daß die beiden die Stadt gemeinsam regierten.
»Geh auf direktem Weg zu Nikhan«, hatte Marrah Kandar befohlen. »Er wird dich schützen, und wenn es irgendwelche Sklavenlager gibt, wird er dich hinführen.« Leider war Marrahs Information hoffnungslos veraltet. Am Morgen war Luma durch die Straßen von Shamban geschlendert, um mit den Leuten zu schwatzen, wie es neugierige Händlerinnen zu tun pflegten. Im Laufe dieser Unterhaltungen hatte sie erfahren, daß Nikhan ihnen bei der Auffindung der Sklavenlager keine große Hilfe mehr sein würde, weil er im vergangenen Sommer gestorben war. Es war Nikhans Skelett, das dort oben in Gold getaucht stand. Luma betrachtete seine schiefen Schienbeinknochen und das krumme Rückgrat und fragte sich, ob der alte Häuptling wohl
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