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Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde

Titel: Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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Fliegen zu verscheuchen.
    Keshna begriff die schreckliche Gefahr, in der sie gewesen war, erst, als sie aus dem Wäldchen herausritt und die deutlichen Spuren sah, die die Hufe der Schlachtrösser in der aufgeweichten Erde hinterlassen hatten. Sie schnappte keuchend nach Luft vor Schreck und Fassungslosigkeit, als sie versuchte abzuschätzen, wie viele Männer an ihr vorbeigeritten waren, während sie ahnungslos schlief. Die Hufspuren überkreuzten sich immer wieder und hatten alles frische junge Grün auf dem Weg plattgetrampelt. Zehn, fünfzehn, zwanzig – Große Göttin – mehr als zwanzig! Kriegerverbände von mehr als zwanzig Männern waren in den Mutterländern nicht mehr gesehen worden, seit Vlahan die Stämme aus der Steppe herausgeführt hatte, um Shara zu belagern.
    Keshna konnte den bitteren Geschmack der Furcht in ihrem Mund schmecken. Mindestens fünfundzwanzig Krieger galoppierten geradewegs auf Shara zu. Sie mußte es irgendwie schaffen, vor ihnen in der Stadt einzutreffen, um Alarm zu schlagen. Aber wie sollte sie an dem Kriegerverband vorbeikommen, ohne getötet zu werden? Dies war der einzige Weg, der am Ufer des Süßwassersees entlangführte, und wenn sie ihm weiter folgte, bestand die Gefahr, geradewegs in einen Hinterhalt hineinzureiten.
    Sie dachte an den Irrgarten von Trampelpfaden und Wildfährten, die sich durch die Wälder zogen. Die schmalen Pfade führten über steile Bergflanken und an Bachufern entlang, wo es keine sicheren Furten gab. Sie würde mindestens zwei zusätzliche Tage brauchen, um auf diesem Umweg nach Shara zu gelangen, ganz gleich, wie hart sie die Pferde antrieb.
    Fünfundzwanzig Krieger, dachte Keshna verzweifelt. Zwei zusätzliche Tage. Nur ein Weg. Die Zahlen wirbelten in ihrem Kopf herum wie Blätter in einem wilden Wasserstrudel.
    Luma, komm zurück! flehte sie stumm. Ich brauche dich, du mußt mir sagen, wie brillant ich bin. Du mußt mir sagen, daß ich mir immer einen schlauen Plan ausdenken kann, ganz gleich, wie hoffnungslos die Situation ist!
     

12. KAPITEL
     
    Shamban
     
    Das neugeborene Lamm auf dem Altar der Göttin Chilana zappelte verzweifelt und blökte voller Todesangst; aber seine Beine waren fest zusammengebunden, und der Priester – an die Panik von Opfertieren gewöhnt –, hielt es mit eisernem Griff gepackt, sprach ein kurzes Gebet und schlitzte ihm die Kehle auf. Als die Schneide seines zeremoniellen Dolches Fell und Sehnen durchtrennte, schoß ein Strahl hellrotes Blut heraus, spritzte auf die Steine des Altars und sammelte sich in einer kleinen, erst kürzlich ausgehöhlten Vertiefung direkt unterhalb der Statue der Göttin.
    Luma versuchte, den Blick abzuwenden, aber sie war noch nie zuvor Zeugin eines Rituals gewesen, bei dem ein Tier geopfert wurde, und der Anblick des sterbenden Lamms war traurig und faszinierend zugleich, so dermaßen unangebracht, daß sie einen Moment lang das Gefühl hatte, in einem Alptraum gefangen zu sein, geboren aus Erschöpfung und halbrohem Hammelfleisch.
    Luma starrte zu der Statue von Chilana hoch und suchte auf dem Gesicht der Göttin nach einem Zeichen des Abscheus, aber sie fand nichts dergleichen, denn die wirkliche Göttin lebte im Geiste und nicht in Stein. Diese Chilana war sehr alt, sie mußte lange vor der Invasion durch die Nomaden gemeißelt worden sein. Sie hatte menschliche Augen und einen runden, fruchtbaren Bauch, doch wie alle shambanischen Göttinnen hatte sie auch Schmetterlingsflügel: liebevoll aus Stein gehauene Schwingen, blau und orange bemalt, und mit Goldflitter bestäubt, die sich in einem eleganten Bogen spannten. Ihre Flügel waren die große Vulva, die Kinder gebar; die doppelschneidige Axt, die den Wald rodete, damit die Shambaner Weizen anbauen konnten; das Symbol der menschlichen Seele, verwandelt und wiedergeboren. In den alten Zeiten hätten die Shambaner sie den Göttlichen Schmetterling genannt; sie hätten ihr zu Ehren getanzt und Töpfe mit Honig und purpurrote und weiße Schmetterlingsblumen als Opfergaben zu ihren Füßen niedergelegt. Aber sie hätten niemals versucht, ihr das Blut eines Lammes als Opfer darzubieten.
    Trotzdem sollte ich wahrscheinlich froh darüber sein, dachte Luma, daß es nur ein Lamm ist, das heute nachmittag auf dem Altar stirbt. Der Priester mochte zwar in Chilanas Tempel präsidieren, aber es war ein Shubhai-Nomade – das konnte sie an seinem blonden Haar erkennen und an dem tätowierten Raben auf seiner rechten Schulter. Bevor sie nach

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