Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
mehrfach angegriffen hatten, war die Bedrohung sehr real, doch Keshna hatte die Gefahr tollkühn mißachtet. Sie hatte sich ein Pferd genommen – »ausgerechnet eines, das noch nicht richtig zugeritten war«, jammerte Hiknak –, und war hinter den Schlangen hergeritten, nur mit einem hölzernen Dolch bewaffnet. Und sie war erstaunlich weit gekommen, bevor einer von Ranalas Kundschaftern sie entdeckt hatte und ihr aus Versehen beinahe einen Pfeil durch die Brust gejagt hätte.
Ranala war natürlich wütend gewesen. Keshna besaß keinerlei Kampfausbildung, und ihr leichtsinniges Verhalten hätte die Nomaden auf die Stellung des Verbandes aufmerksam machen können. Wäre sie nicht noch ein Kind gewesen, das eine Kinderhalskette trug, hätten die Schlangen sie in Fesseln gelegt, unter den Bauch ihres Pferdes festgebunden und so nach Hause verfrachtet, um ihr eine Lektion zu erteilen. Aber da sie noch immer unter dem Schutz der Göttin Erde stand, hatten sie sie nicht angemessen bestrafen können. Keshna war mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht in Shara eingeritten, und als Arang und Hiknak wissen wollten, ob ihr skandalöses Betragen ihr leid tue, hatte ihre Entschuldigung, gelinde gesagt, nicht sonderlich überzeugend geklungen.
»Sie wird es wieder tun«, sagte Hiknak jetzt. »Das weiß ich. Oder sie wird noch etwas sehr viel Schlimmeres anstellen. Paß du für mich auf sie auf, Marrah. Dieses Jahr wirst du nicht nach Shara fahren, um den Vorsitz über den Rat der Ältesten zu übernehmen, deshalb werden du und Stavan den ganzen Sommer und den ganzen nächsten Winter auf Alzac sein, bevor Arang und ich herunterkommen, um mit euch zu tauschen. Ich weiß, du hast deine eigenen Probleme mit Luma, aber auf einer kleinen Insel wie dieser gibt es nicht allzu viele Möglichkeiten für die beiden, Unfug anzustellen. Laß Keshna neben Driknak schlafen, ihre Mahlzeiten mit Driknak einnehmen und dorthin gehen, wo Driknak hingeht. Deine Adoptivtochter ist ein gehorsames Mädchen, zuverlässig und vernünftig. Man braucht sie nicht festzubinden, um zu wissen, wo sie nachts ist. Vielleicht färbt ja etwas von Driknaks ruhiger, besonnener Art auf Keshna ab. Und selbst wenn nicht – bis zum nächsten Frühjahr wird Keshna sicherlich ihre erste Menstruation gehabt haben. Wenn sie erst einmal volljährig ist, kann Ranala sie wie eine Erwachsene bestrafen.«
»Das ist ja gerade das Problem«, erwiderte Marrah. »Die Monate vergehen, und die Göttin hat den Mädchen das Zeichen des Übergangs vom Kind zur Frau noch immer nicht geschickt. Wer kann Luma und Keshna vorwerfen, daß sie ungeduldig sind? Als wir in ihrem Alter waren, waren wir bereits Frauen. Du warst Vlahans Konkubine, als du ... wie alt warst? Zwölf? Und ich war gerade dreizehn, als ich den ganzen weiten Weg vom Meer der Grauen Wogen bis zum Süßwassersee gewandert bin. Unsere Töchter haben den Geist von Frauen, aber den Körper von Kindern. Ist es da ein Wunder, daß sie verwirrt sind?«
Sie saßen lange Zeit zusammen und sprachen über diesen Unterschied und die anderen Unterschiede, die ihre Kinder von anderen abhoben. Sie seufzten oft, und manchmal trommelten sie ungeduldig mit den Fingern auf die geflochtenen Matten, aber insgeheim waren beide Mütter stolz auf ihre Töchter. Trotz der Probleme, die Lumas und Keshnas Erziehung mit sich brachten, wußten Marrah und Hiknak, daß es in allen Mutterländern niemals zwei Kinder wie die beiden gegeben hatte.
Auf ihrem Weg zum Festland hatten Keshna und Luma ihre blattförmigen Paddel ins Meer getaucht und ein Lied über die Göttin der Wogen gesungen. Sie hatten die schmale Wasserfläche in Rekordzeit überquert und es bis zum Strand geschafft, ohne aufzufallen. Nachdem der geliehene Einbaum sicher unter einem Busch versteckt war, wo ihn so schnell keiner entdecken würde, standen sie jetzt einem Händler gegenüber, der erst vor so kurzer Zeit angekommen war, daß sein Raspa voller Waren noch immer in der Bucht schaukelte.
»Wir wollen zwei Pferde kaufen«, erklärte Keshna dem Händler. Er war ein kleiner, rundlicher Mann aus dem Muttervolk, dunkel und behaart, mit einer breiten Brust und einem gemütlichen Spitzbauch, aber er hatte oben im Norden mit einigen der friedlicheren Nomadenstämme Handel getrieben, die sich um Shamban herum niedergelassen hatten, und war so gekleidet, wie sich die Männer im Norden neuerdings zu kleiden pflegten, mit einem Goldarmband am Handgelenk und drei goldenen Ringen in
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