Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
Faszinierendes wie dies hier zu berichten hatten, teilten sie es gerne in kleinen Portionen aus, damit es für den ganzen Abend reichte.
»Und dann ...!« pflegten sie fortzufahren. Wenn es sehr gute Geschichtenerzähler waren, hielten sie an diesem Punkt ein zweites Mal inne, blickten die gespannt wartenden Dorfbewohner durchdringend an, lächelten und sagten dann langsam und mit großem Nachdruck: »Aber zuerst, meine Freunde, möchte ich noch einmal zum Anfang dieser Geschichte zurückkehren, damit ihr versteht, wie alles begonnen hat.«
Lumas und Keshnas Erreichung der Volljährigkeit hatte vollkommen normal begonnen. Die Mädchen hatten innerhalb von zwei Wochen nacheinander ihre erste Regel bekommen, und nachdem Marrah und Stavan ihnen förmlich gratuliert hatten, hatte Stavan einen Boten nach Shara hinaufgeschickt, um Arang und Hiknak die gute Nachricht zu überbringen. Ein paar Wochen später war Hiknak gekommen und hatte ein halbes Dutzend Verwandte und Freunde mitgebracht.
Wenn ein Junge oder ein Mädchen des Muttervolkes volljährig wurde, versammelte sich die ganze Gemeinde, um ein Festgelage zu halten, zu tanzen und ihnen ein langes und glückliches Leben zu wünschen. In Lumas und Keshnas Fall fand sich die Verwandtschaft jedoch auch ein, um einen kollektiven Seufzer der Erleichterung auszustoßen. Soweit irgend jemand zurückdenken konnte, hatte noch nie ein Mädchen so lange gebraucht, um sein Zeichen des Übergangs von der Göttin zu empfangen. Es wäre ein schreckliches Unglück gewesen, wenn sich herausgestellt hätte, daß die beiden unfruchtbar wären – besonders weil in den Dörfern im Norden jetzt so viele Kinder gemischter Abstammung geboren wurden –, und es waren viele Gebete zur Göttin Erde gesandt worden mit der eindringlichen Bitte, den entscheidenden Tag nicht länger hinauszuzögern.
Nach Hiknaks Ankunft waren sämtliche Bewohner von Alzac zwei Wochen lang fieberhaft mit den Vorbereitungen für die Zeremonie beschäftigt, während Luma und Keshna auf dreibeinigen Hockern vor Marrahs Haus saßen und die Glück- und Segenswünsche von Freunden und Nachbarn entgegennahmen, wie es der Brauch war. Ab und zu verschwanden die beiden auf geheimnisvolle Weise, doch zu diesem Zeitpunkt dachte sich niemand etwas dabei. Später, als bekannt wurde, was die Mädchen ausgeheckt hatten, war die mysteriöse Abwesenheit der beiden natürlich in aller Munde.
Wer konnte den Inselbewohnern schon einen Vorwurf daraus machen, daß sie nicht merkten, daß die Mädchen nicht immer dort waren, wo sie eigentlich hätten sein sollen? Schließlich waren es sehr arbeitsreiche Wochen. Zu Ehren der beiden zukünftigen Frauen wurden alle Häuser im Dorf frisch getüncht und mit neuen, farbenfrohen Mustern bemalt. Ganze Körbe weißer Muscheln wurden gesammelt und zerstampft, um die Muschelpfade auszubessern. Sechs Dutzend verschiedenfarbiger Fahnen wurden zugeschnitten, genäht und an den Dachbalken aufgehängt. Mit Pech abgedichtete Körbe, randvoll mit Wasser gefüllt, wurden in die Gärten geschleppt, um den sandigen Boden zu bewässern und ihm noch mehr Blumen zu entlocken. In den Tempeln probten die Trommler und anderen Musikanten ohne Unterlaß, während sich am Strand die jungen Männer einfanden, die darum wetteifern würden, die Nacht mit Luma und Keshna zu verbringen, und sich im Tanz der Rollenden Wogen übten, einem traditionellen Tanz, der an den Küsten zweier Meere berühmt war.
In der Zwischenzeit rannten die jüngeren Kinder durch das Dorf, völlig aus dem Häuschen vor Aufregung steckten sie ihre Finger in Kochtöpfe, naschten süße Leckereien noch heiß aus den Tempelöfen und stürmten durch Marrahs Tür, um Luma und Keshna als Glücksbringer zu berühren.
Inmitten all dieser Hektik und Aufregung blieben Luma und Keshna bewundernswert ruhig. Später ging Marrah auf, daß sie geradezu verdächtig ruhig waren, doch zu dem Zeitpunkt war sie so in die Erinnerungen an ihren eigenen Volljährigkeitstag versunken, daß sie sich häufig dabei ertappte, wie sie völlig zerstreut und geistesabwesend umherging. Sie blickte auf das glitzernde blaue Wasser hinaus, das Alzac auf allen Seiten umschloß, und dachte an das Meer der Grauen Wogen und an die nebligen Morgen ihrer Kindheit im Westen Jenseits des Westens; sie erinnerte sich an den gewaltigen Sturm, der beinahe ihre Volljährigkeitsfeier verdorben hatte, und an die jungen Männer, die ihr zu Ehren den Reihertanz getanzt hatten.
Jedesmal wenn
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