Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
sie Luma und Keshna bei den Vorbereitungen für ihre Volljährigkeitszeremonie half, erinnerte Marrah sich daran, wie ihre eigene Mutter, Sabalah, die gleichen Dinge für sie getan hatte. Wenn Marrah die Farbpigmente mahlte und vermischte, die sie und Hiknak auf den Körpern ihrer Töchter verteilen würden, dachte sie an jenen Morgen vor so langer, langer Zeit, als Sabalah zu ihren Füßen gekniet hatte, um ihren Körper mit den heiligen Symbolen zu bemalen. Bei dem Gedanken an ihre Mutter füllten sich ihre Augen mit Tränen. Wenn Sabalah doch nur hätte hier sein können, um die Volljährigkeitszeremonie ihrer Enkelin mitzuerleben! Wenn Keru doch nur neben seiner Schwester hätte sitzen können! Der Verlust von Keru und ihrer Mutter schien einfach zu entsetzlich, um ihn ertragen zu können, und Marrah unterbrach ihre Tätigkeit und ließ hilflos die Hände in den Schoß sinken.
Aber sie war nicht der Mensch, der in Selbstmitleid versank. Bald hörte sie das fröhliche Lachen der Kinder oder den Rhythmus der Trommeln am Strand, und der Augenblick der Verzweiflung ging wieder vorüber. Dann riß Marrah sich energisch zusammen, kehrte an ihre Arbeit zurück und ermahnte sich, ausschließlich an das bevorstehende festliche Ereignis zu denken. Ihr eigenes Leben war an voller Gefahren gewesen, daß sie es nur der Gnade der Göttin Erde zu verdanken hatte, daß
sie
überlebt hatte, um Lumas Volljährigkeit zu erleben. Es wäre höchst egoistisch und undankbar, an einem solch glücklichen Tag düsteren Gedanken nachzuhängen.
Der Tag der Zeremonie dämmerte warm und wolkenlos herauf. Lange vor Sonnenaufgang wehte der verlockende Duft backender Leckereien und gegrillten Fleisches aus den Tempelöfen herüber. Bei Tagesanbruch, als die See noch ein glatter, milchig-grauer Spiegel war, kamen Marrah, Hiknak und Stavan in Lumas und Keshnas Schlafraum, um sie zu wecken. Die drei Erwachsenen waren in erdfarbene Tuniken gekleidet, und sie trugen Girlanden aus grünen Blättern und bunten Blumen um den Hals und Kränze mit brennenden Kerzen auf dem Kopf. Anders als bei den sonnenanbetenden Nomaden, die ständig Feuer bei ihren Ritualen benutzten, spielten Flammen bei den Zeremonien der Mutterleute nur eine untergeordnete Rolle. Am Volljährigkeitstag eines Kindes war es jedoch üblich, daß diejenigen, die die Schlafenden weckten, eine Krone aus Flammen trugen. Die Lichterkronen wurden
Feuer des Frühlings
genannt und sollten an die Leidenschaft der Jugend erinnern, an ihre Hoffnungen, ihre Kraft und an ihre strahlende Schönheit.
Luma und Keshna, die in der Nacht nicht viel geschlafen hatten, sprangen sofort von ihren Schlafmatten auf; sie wurden geküßt und umarmt und mit Glückwünschen überhäuft – auch in Arangs Namen, der als Keshnas Aita an diesem besonderen Tag ebenfalls hätte anwesend sein sollen, der aber in Shara hatte bleiben müssen, um dem Rat der Ältesten vorzusitzen und die Stadt vor feindlichen Angriffen zu schützen. So wurde selbst dieser Augenblick der Freude von den Veränderungen überschattet, die über die Mutterländer gekommen waren.
Den Rest des Tages folgte eine Feier der anderen. Zuerst wurden Luma und Keshna zum Wassertempel geführt, wo die Priesterinnen sie in einer großen steinernen Wanne mit heiligem Wasser badeten. Dann wurden sie mit rauhen Leinenhandtüchern abgerubbelt und mit süß duftenden Ölen eingerieben, anschließend bürsteten die Priesterinnen ihnen das Haar und flochten Federn und frische Blumen hinein. Schließlich führten sie die beiden Mädchen in den Hof und präsentierten sie Marrah und Hiknak, die vor ihnen niederknieten und ihre Körper mit den heiligen Mustern und Symbolen bemalten.
Die traditionellen Muster, mit denen Mädchen an ihrem Volljährigkeitstag geschmückt wurden, waren überall in den Mutterländern gleich: neun rote Linien auf den Wangen für die neun Monate der Schwangerschaft; schwarze Hüften und Bäuche als Symbol der Fruchtbarkeit; die Brüste mit heiligen Kreisen und ineinander-greifenden Dreiecken bemalt, die Brustspitzen mit glitzernder Glimmererde bestäubt; ein Fuß grün als Symbol des Lebens, der andere gelb als Sinnbild des Todes – denn selbst an einem solch frohen, festlichen Tag wurde der ewige Zyklus der Entstehung aus der Muttergöttin und der Rückkehr in Ihren Schoß nicht unterbrochen.
Als die Bemalung fertig war, kleideten Hiknak und Marrah die Mädchen in weiche Lederstiefel und kurze Leinenröcke mit blauer Einfassung
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