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Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde

Titel: Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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nur eine Reise von einigen wenigen Schritten, aber sie wußte, es würde eine der schwersten sein, die sie jemals unternommen hatte.
     
    Das Innere des Hochzeitszeltes war reich geschmückt und farbenfroh wie ein sharanischer Tempel, aber Luma nahm kaum Notiz von den weißen Wänden aus feinstem Kalbsleder, die mit bunten Blumen und Vögeln geschmückt waren, und von dem himmelblauen Zeltdach mit seinen riesigen roten und goldenen Sonnen und Sternen und von den mit Blitzen bemalten Zeltstangen. Alles, was Luma wahrnahm, war Keshna: Sie lag auf einer feinen, braunen mit galoppierenden Pferden bestickten Decke. Ihre Hände waren auf ihrer Brust gefaltet, und jemand – vermutlich Urmnak oder Chamnak – hatte sie in ihr weißes Hochzeitsgewand und die weißen Beinlinge gekleidet. Ihr Kopf war teilweise von einem feinen weißen Schal verhüllt, und sie trug mehrere Ketten aus zierlichen Goldpferden um den Hals. Ihre Lippen waren mit irgendeinem roten Farbstoff geschminkt, doch alle Farben der Welt konnten nicht die Tatsache vertuschen, daß Keshna tot war. Ihr Gesicht war von einer gespenstisch bläulichen Färbung, ihre Augen waren eingesunken, ihre Lider reglos. Selbst ihr Haar – das bißchen, das inzwischen nachgewachsen war – sah anders aus als sonst. Es lockte sich nicht mehr als feuriger roter Heiligenschein um ihren Kopf, sondern wirkte strähnig, braun und schmutzig.
    Luma hatte geglaubt, sie sei auf das Schlimmste gefaßt, doch als sie ihre Fingerspitzen an Keshnas Hals legte, war Keshnas Haut so kalt, daß Luma mit einem erschrockenen Aufschrei ihre Hand zurückriß. Sie biß die Zähne zusammen und zwang sich, Keshna noch einmal zu berühren. Nichts. Kein Puls. Sie versuchte es erneut an einer anderen Stelle. Noch immer kein Pulsschlag, nur das schwache Pulsieren ihrer eigenen Finger.
    Sie war bitter enttäuscht, obwohl sie wußte, daß es töricht von ihr war, sich an die Hoffnung zu klammern, Keshna könnte vielleicht doch noch leben. Sie saß neben Keshnas Leichnam und streichelte ihr Haar. Draußen vor dem Zelt hörte sie das Schaben und Kratzen von Knochenpickeln. Ein paar Krieger waren dabei, ein Grab für Keshna auszuheben.
    Luma wollte nicht, daß Keshna in der Erde verscharrt und von Würmern zerfressen würde. Sie wollte, daß sie in einer Baumkrone aufgebahrt wurde, damit die Vögel sie zur Muttergöttin zurückbringen konnten. Sie stand auf und strebte zum Zeltausgang, um den Kriegern zu sagen, daß sie mit Graben aufhören sollten, doch auf halbem Weg nach draußen überlegte sie nochmals und machte wieder kehrt. Sie konnte Keshna nicht verlassen, ohne sich absolut sicher zu sein, daß es keine Hoffnung mehr für sie gab; und ihr war gerade wieder eingefallen, wie Marrah ihr einmal erzählt hatte, daß man feststellen konnte, ob jemand, der tot zu sein schien, auch wirklich tot war, indem man sein Augenlid anhob. Wenn die Oberfläche des Auges klar war, hatte Marrah erklärt, dann lebte derjenige noch; wenn sie aber von einem trüben Schleier überzogen war, dann war er unwiderruflich verloren.
    Luma beugte sich über Keshna, hob die Hand und zog mit einer wortlosen Entschuldigung Keshnas rechtes Augenlid zurück. Keshna starrte sie direkt an. Allmächtige Göttin! Ihr Auge war klar!
    Zitternd vor Aufregung sank Luma auf die Knie, grub ihre Finger in Keshnas Hals und suchte nach ihrem Puls. Wäre Keshna wach gewesen, hätte sie laut geflucht und gewürgt und beinahe einen Erstickungsanfall bekommen, doch Luma kümmerte sich nicht darum. Sie machte weiter. Plötzlich, als sie schon fast alle Hoffnung aufgegeben hatte, fühlte sie es: ein schwaches Pulsieren von Blut tief unter der Haut. Irgendwo im Inneren des steifen Körpers schlug noch immer Keshnas Herz!
    Luma preßte die Handflächen zusammen und versuchte sich zu beruhigen, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Was sollte sie tun? Was wäre das beste? Dies war kein normaler Schlaf. Keshna war vergiftet worden. Um sie wiederzubeleben, mußte sie ein Gegenmittel mischen. Aber dazu mußte sie genau wissen, welches Gift – oder welche Kombination von Giften – Changar Keshna verabreicht hatte. Aber Changar war tot und nicht mehr in der Lage, sein Rezept auszuplaudern. Wenn sie Keshna das falsche Gegengift einflößte, würde sie sie womöglich endgültig umbringen. Bei dem Gedanken, daß sie Keshna versehentlich töten könnte, überlief Luma ein eiskalter Schauder. In diesem Moment hätte sie liebend gerne alles, was Stavan sie

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