Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
tot.« Und Keshna hörte erstaunt zu, wie Luma ihr berichtete, was in der Zwischenzeit alles passiert war, während sie geschlafen hatte.
Nachdem Luma ihr versichert hatte, daß Keru von seinen Verletzungen genesen würde, zwang sie Keshna, noch mehr von dem widerwärtig schmeckenden Tee zu trinken, bis ihre bläulichen Lippen wieder eine normale Farbe hatten. Dann faßten Urmnak und Chamnak sie rechts und links unter, zogen sie unter Lumas Aufsicht vorsichtig auf die Füße, führten sie nach draußen und gingen mit ihr in der frischen Luft hin und her, bis sie vollkommen wach war und wieder ohne Hilfe stehen und laufen konnte.
Als Keshna an den Kriegern vorbeikam, die über den Resten des Hochzeitsessens saßen, hörten die Männer abrupt auf zu trinken, die Frauen erstarrten vor Schreck, und die Kinder rannten zu ihren Müttern, um sich hinter ihren Röcken zu verstecken. Sämtliche Lagerbewohner starrten Keshna an, als sei sie ein Geist, und von diesem Tag an hatte Luma den Ruf, eine mächtige Hexe zu sein, die Tote zum Leben erwecken konnte; doch Keshna achtete nicht auf all das. Sie war zu sehr damit beschäftigt, die aufgespießten Köpfe zu betrachten. Im Gegensatz zu Luma fand sie den Anblick überhaupt nicht abstoßend. Ihrer Ansicht nach hatten die Verräter genau das bekommen, was sie verdient hatten, und es heiterte sie beträchtlich auf, sie – und ganz besonders Changar – als Fliegenköder gestellt zu sehen.
Aber ihre triumphierende Stimmung hielt nur so lange an, bis sie über die Schwelle von Kerus Zelt trat. Keru lag flach auf dem Rücken und schlief, ein besticktes Kissen unter dem Kopf. Er lebte, aber Keshna konnte sehen, daß es ihm sehr schlecht ging.
Luma eilte zu ihm und legte ihm prüfend eine Hand auf die Stirn. »Er hat Fieber bekommen«, erklärte sie.
Das überraschte Keshna nicht. Sie war keine große Heilerin, aber selbst sie konnte erkennen, daß Keru Fieber hatte. Sein Haar war so naß, daß er aussah, als wäre er gerade aus dem Fluß herausgezogen worden, und er hatte Schüttelfrost, obwohl das Zelt völlig überheizt war. Zu ihrer Verblüffung fühlte sie plötzlich Tränen in ihren Augen. Sie biß sich auf die Lippen und drängte die Tränen zurück, um sich vor Luma keine Blöße zu geben. Sie hatte nie behauptet, Keru zu lieben. Sie hatte es zwar genossen, Sex mit ihm zu haben – das allererste Mal in ihrem Leben –, aber sie hatte ihn nur dazu verführt, in eine Eheschließung einzuwilligen, weil ihr nichts Besseres eingefallen war, um ihn aus Changars Gewalt zu befreien. Doch sie hatte ihn sehr gern, und als sie ihn jetzt betrachtete, wie er hilflos dalag und mühsam nach Luft rang, breitete sich ein hohles Gefühl in ihrer Magengrube aus, als hätte ihr jemand in einem unachtsamen Moment die Eingeweide herausgenommen. Es war kein Mitleid. Sie neigte nicht dazu, Menschen zu bemitleiden. Es war eher so etwas wie eine Ahnung, daß sie im Begriff war, etwas Wichtiges zu verlieren, noch bevor sie eine Chance gehabt hatte, seinen Wert zu begreifen.
Ihre Tränen entnervten sie. Sie wußte nicht, warum Keru ihr plötzlich soviel bedeutete, aber so war es nun einmal. Impulsiv setzte sie sich neben Keru und nahm Urmnak den Waschlappen aus der Hand. »Laß mich das machen«, sagte sie. Sie badete Kerus Brust, sorgsam darauf bedacht, ihn nicht zu wecken oder seine Wunde zu berühren. Dann wusch sie ihm behutsam die Arme. Aus irgendeinem Grund beruhigte es sie, ihn zu umsorgen.
»Du solltest es Urmnak überlassen, ihn zu pflegen«, sagte Luma. »Du bist noch zu schwach, um dich um einen Kranken zu kümmern.« Doch Keshna senkte nur störrisch den Kopf und tat so, als hörte sie sie nicht. Sie fuhr fort, Keru mit kühlem Wasser zu waschen, und ganz gleich, wie inständig Luma sie bat, sich hinzulegen und zu schlafen, sie weigerte sich, von Kerus Seite zu weichen.
In den frühen Morgenstunden willigte Keshna schließlich ein, sich von Urmnak und Chamnak ablösen zu lassen. Sie verließ mit Luma das Zelt, um frische Luft zu schnappen. Sie standen schweigend da und schauten flußabwärts über die riesige, schilfbewachsene Ebene des Deltas. Hinter ihnen saßen Kerus Krieger um die Lagerfeuer und unterhielten sich im Flüsterton, um ihren Häuptling nicht zu stören. Es war Vollmond, das Schilfrohr sah aus wie gesponnenes Silber, und der Fluß war so dunkel und glatt wie ein polierter Stein.
»Ein schönes Bild, nicht?« sagte Luma müde.
»Ja«, pflichtete Keshna ihr bei.
Weitere Kostenlose Bücher