Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
hättest, wäre sie jetzt tot, deshalb ist es vollkommen richtig, daß sie wütend ist.« Er wandte sich an Keshna: »Die Frage ist: Was wirst du das nächste Mal tun, um zu verhindern, daß du mit blauer Farbe auf der Brust zurückkehrst?«
»Luma schnappen, bevor sie mich schnappen kann«, fauchte Keshna, biß den Schwanz ihres Fisches ab und spuckte ihn auf den Boden.
»Das ist nicht die richtige Antwort. Hör mir zu, Keshna. Du bist vorschnell und unbesonnen, und du gehst unnötig Risiken ein. Wenn ich Ranala wäre, würde ich dich niemals mit den Schlangen reiten lassen, weil du jeden Mann und jede Frau in dem Verband in Gefahr bringen würdest. Bevor ich dich und Luma nach Shara mitnehme, wirst du Geduld lernen müssen. Du bist mutig, daran besteht gar kein Zweifel, aber du bist auch eine Närrin. Und mutige Narren stellen nicht nur für sich selbst eine tödliche Gefahr dar, sondern auch für ihre Freunde und Kampfgenossen. Verstehst du, was ich meine?«
» Ja «, erwiderte Keshna und biß erneut in den Fisch, aber ihre Augen waren störrisch zu Schlitzen verengt, und in ihrem Ausdruck war etwas, das Luma verriet, daß Keshna nicht verstand, was Stavan ihr sagte, und es auch niemals verstehen würde.
Während des darauffolgenden Monats trieb Stavan die Mädchen unbarmherzig an, das war alles, was er angesichts der begrenzten Möglichkeiten in den Gesegneten Ländern tun konnte, um Kriegerinnen aus ihnen zu machen. Deshalb kehrten er, Marrah und Hiknak am letzten Tag des Sommers, lange bevor die Winterstürme einsetzten, nach Shara zurück und nahmen Luma und Keshna mit.
Für Keshna war dies eine ganz gewöhnliche Reise – eine, die sie von frühester Jugend an jedes zweite Jahr gemacht hatte –, doch für Luma war es etwas völlig anderes. Vor acht Jahren war Luma mit ihrer Mutter von Shara nach Alzac gefahren, aber das einzige, woran sie sich von jener Reise noch erinnern konnte, war ein schwerer Sturm, von dem sie seekrank geworden war. Seither hatte sie in einer sicheren kleinen Welt gelebt, auf allen Seiten von schützendem Wasser umgeben. Jetzt war diese Welt im Begriff auseinanderzubrechen.
Sie verließen Alzac in zwei Raspas und segelten in nördlicher Richtung an der Küste entlang, und von dem Moment an, als sie die erste Landspitze umrundeten, war Luma von fieberhafter Erregung erfüllt. Während die anderen ein Nickerchen machten und über die Hitze und die Windstille schimpften, saß sie am Bug des Bootes und starrte auf die vorbeigleitende Uferlinie.
Zunächst passierte nicht viel. Das Wetter war schön, und sie kamen langsam, aber stetig voran. Jeden Morgen stachen sie in See. Die Matrosen pflegten ein paar Angeln auszuwerfen, in der Hoffnung, genügend Fisch für das Mittagessen zu fangen, und Luma und Keshna machten es sich auf den mit Grasmatten abgedeckten Weinkrügen bequem, die sie mit nach Shara nahmen. Keshnas Lieblingsbeschäftigung bestand darin, Mutmaßungen darüber anzustellen, mit welchem Verband von Schlangenkriegern sie und Luma kämpfen würden.
»Was glaubst du, in welche Truppe Ranala uns stecken wird? Zu den Rattenschlangen, den Giftzähnen oder den Vipern?« fragte sie, während sie träge auf die vorbeigleitende Küstenlinie blickte. Insgesamt gab es etwa fünfzig Schlangen, eingeteilt in fünf Verbände. Jeder Verband hatte seinen eigenen Namen und seinen Anführer, aber Ranala war die Oberbefehlshaberin über sie alle.
»Ich wette, sie wird uns zu den Nattern stecken«, erwiderte Luma darauf.
»Warum nicht zu den Peitschenschlangen? Warum nicht in Ranalas eigene Truppe? Wir sind ziemlich gut.«
»Nein, das sind wir nicht. Du hast noch nie gegen einen Nomadenkrieger gekämpft, und ich habe außer Aita Stavan noch nie einen zu Gesicht bekommen.«
Oft verging der größte Teil des Morgens über dieser »In welchen Verband wird Ranala uns wohl aufnehmen«-Debatte. Sie pflegten die verschiedenen Anführer miteinander zu vergleichen und ihre diversen Abenteuer und Heldentaten durchzukauen. Ihre erste Wahl fiel immer auf Ranala, aber da selbst Keshna zugeben mußte, daß Ranala wohl kaum zwei unerfahrene Fünfzehnjährige in ihre Elitetruppe aufnehmen würde, gingen sie schnell zu den anderen Anführern über. Keshna bevorzugte Prammah von den Rattenschlangen, während Luma eher für Kandar war, der die Nattern befehligte.
»Kandar ist klüger und gewitzter als Prammah«, sagte Luma, als wüßte sie dies aus erster Hand und hätte es nicht von Keshna erzählt
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