Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
das Boot durch die Brandung zum Strand zu dirigieren.
Von dem Moment an, als Luma durch die Wellen auf sharanischen Boden watete, war sie viel zu beschäftigt, um traurig zu sein. Ihr Onkel Arang war zu ihrer Begrüßung an den Strand gekommen und hatte einen ganzen Schwarm von Freunden und Verwandten mitgebracht. Es war ein überaus herzlicher Empfang, begleitet von unzähligen Umarmungen und Küssen. Als die Begrüßung vorbei war, machten sich alle an die Arbeit, die Ladung zu löschen. Anschließend gingen sie in die Stadt, um ein Festgelage zu halten, gefolgt von Musik und Tanz, die bis tief in die Nacht dauern sollten.
Sehr viel später, nachdem das Fest vorbei war und alle zu Bett gegangen waren, fand Luma sich in demselben Schlafraum wieder, den sie und Keru als Kinder geteilt hatten. Es war ein kleines abgeteiltes Schlafkämmerchen mit einem hohen Fenster, einem schlichten braunen Fliesenfußboden und frischgetünchten Wänden, und zweifellos hatten im Laufe der Jahre viele Leute darin geschlafen; dennoch konnte sie Kerus Gegenwart noch immer spüren. Das letzte Mal, als sie und Keru diese Kammer geteilt hatten, hatten sie vor Aufregung kaum ein Auge zugetan. Damals hatten ihre neuen Drachen an der Wand gelehnt – ihr rotgrüner Frosch und Kerus schwarzer Wolf –, und sie hatten den größten Teil der Nacht damit verbracht, sich darüber zu streiten, welcher der beiden höher fliegen würde.
Eine Weile lag Luma still da und fühlte den Geist ihres verschollenen Bruders auf einer imaginären Schlafmatte neben ihr liegen. Schließlich drehte sie ihr Gesicht zur Wand und versuchte zu weinen, aber Stavan hatte sie zu gut ausgebildet.
5. KAPITEL
Am nächsten Morgen weckte Stavan Luma und Keshna noch vor Sonnenaufgang und schickte sie hinaus, um beim Füttern der sharanischen Pferde zu helfen, die wegen eines kürzlich stattgefundenen Überfalls in unmittelbarer Nähe der Stadt gehalten wurden. Als die Pferde gefüttert und getränkt waren, führte er sie auf direktem Weg zu Ranalas Mutterhaus, ohne ihnen Zeit zu geben, sich die Hände zu waschen oder das Heu aus dem Haar zu zupfen. Luma und Keshna hatten erwartet, voll bewaffnet und wie Schlangenkrieger gekleidet vor Ranala zu erscheinen, daher waren sie ziemlich enttäuscht; doch inzwischen wußten sie, daß es besser war, nicht zu widersprechen.
Obwohl Ranala Lumas Cousine zweiten Grades war (und auch Keshnas, wenn man die Verwandtschaft nach Art der Nomaden auf die väterliche Linie zurückführte), konnte Luma sich nicht besonders gut an sie erinnern. Bei Lumas Geburt war Ranala bereits eine erwachsene Frau gewesen, und nach der Belagerung von Shara hatte Ranala den größten Teil ihrer Zeit zu Pferd verbracht, um dafür zu sorgen, daß die Nomaden so weit wie möglich in den Norden zurückgetrieben wurden. Luma waren nur ein paar vage Erinnerungen an eine große Frau geblieben, die ihr gelegentlich seltsame kleine Schmuckgegenstände geschenkt hatte. Einmal war Ranala mit einer kupfernen Anstecknadel in Form eines Blitzes erschienen.
Erst viele Jahre später war Luma klargeworden, daß die Anstecknadel Beutegut aus einem Nomadenlager war – vielleicht auch aus einem Nomadengrab. Ranala haßte die Nomaden aus tiefster Seele. Während der Belagerung waren sowohl ihr Liebhaber als auch ihr ältester Bruder ermordet worden, und sie und ihr überlebender Bruder hatten schwere Verletzungen davongetragen. All dieses Leid hatte Ranala mit einem schwelenden Zorn erfüllt, den auch die Zeit nicht hatte auslöschen können. Als die Nomaden aus Shara geflohen waren, hatte sie sich geschworen, eines Tages Jagd auf sie zu machen und Rache zu nehmen. Und sie hatte ihren Schwur gehalten. Ranala und Kandar waren unter den ersten gewesen, die Stavan nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft zu Kriegern ausgebildet hatte. Anfangs hatten sie sich ausschließlich damit befaßt, Shara zu verteidigen. Als jedoch immer mehr Nomaden in die Mutterländer einfielen, begriffen die Sharaner, daß es nicht genügte, sich nur zu verteidigen.
In den vergangenen fünf Jahren hatte Ranala die Schlangen bei einem Überfall nach dem anderen angeführt. Ihre Abenteuer und Heldentaten hatten Stoff für zahlreiche Sagen und Legenden geliefert, und ihr Schlachtruf – »Batal!« – war so berühmt, daß selbst die Kinder in den Gesegneten Ländern, die noch nie in ihrem Leben ein Pferd oder einen Nomaden zu Gesicht bekommen hatten, sich ihn bei ihren Spielen zuriefen.
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