Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
schlammigen Bachufer hinterlassen und war dann ins Wasser gegangen, um stromabwärts neben ihrer eigenen Spur herzuwaten, wobei sie sorgfältig darauf geachtet hatte, kein Wasser auf Steine am Ufer zu spritzen, die eigentlich trocken hätten sein sollen.
Als sie das Weidenwäldchen erreichte, hatte sie sich auf den ersten Baum hinaufgezogen, der am Ufer stand, und sich in den tief-hängenden Ästen versteckt. Die Deckung war perfekt: dicht belaubt, um sich dahinter verbergen zu können, aber wiederum nicht so dicht, daß sie nicht hätte hindurchspähen können, und in unmittelbarer Nähe der Spuren, denen Luma folgen würde.
Dort hockte sie lange Zeit, ohne einen Muskel zu bewegen, die Hand auf ihren Bogen gelegt, und beobachtete das Geschehen um sich herum aus zu Schlitzen verengten Augen, wie Stavan es ihr beigebracht hatte. Bald begannen die Vögel wieder zu zwitschern, und die kleinen Tiere wagten sich wieder aus ihrem Unterschlupf hervor. Ein Reh kam aus dem Wald, um aus dem Bach zu trinken, und sprang davon, ohne sie bemerkt zu haben. Keshna horchte angespannt, und manchmal blähte sie die Nasenflügel und legte den Kopf zurück, um prüfend den Wind durch die Nase einzuziehen. Ein Krieger, der vor einer Schlacht fastete, konnte manchmal das Herannahen des Feindes riechen, aber alles, was Keshna roch, war Wasser und ein unvertrauter moschusartiger Geruch, der von einem Fuchs hätte stammen können.
Die Weiden waren der perfekte Ort für einen Hinterhalt, doch nach einer Weile wurde Keshna ungeduldig. Die Schatten wurden allmählich länger, und Luma war noch immer nicht in Sicht. Wo blieb sie nur so lange? Hatte sie die Regeln des Spiels verletzt und eine Ruhepause eingelegt? Hatte sie die Fährte verloren, die Keshna unter so vielen Mühen für sie gelegt hatte?
So langsam, wie es menschenmöglich war, teilte Keshna die Weidenzweige, doch alles, was sie sehen konnte, waren der Bach, der Wald und ein kleiner braunköpfiger Spatz, der an einer verfaulten Eichel herumpickte. Dann werde ich also doch wieder aus meinem Versteck hervorkommen und Luma jagen müssen, dachte Keshna, hocherfreut über diese Vorstellung, weil sie es stets vorzog, aktiv zu werden, selbst wenn es klüger war, stillzusitzen.
Sie glitt wieder ins Wasser, watete zum gegenüberliegenden Ufer, schwang sich in einen Baum hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter. Sie bewegte sich, während sie ihren eigenen Spuren zurück zum Lager folgte, so lautlos wie möglich. Sie blieb auf der anderen Seite des Baches, so lange sie konnte, doch als ihre Spuren vom Ufer wegführten, war sie gezwungen, ihnen nachzugehen, wobei sie kaum einen Grashalm knickte oder einen Stein aufscharrte. Lange Zeit bewegte sie sich wie ein Schatten. Als sie auf moosbewachsenen Untergrund kam, trat sie bei jedem Schritt zuerst mit der Ferse auf, und als der Boden wieder fester wurde, übersät mit Steinen, Zweigen und Blättern, tastete sie sich mit den Zehen voran. Wenn sie etwas Verdächtiges zu hören glaubte, ließ sie sich auf Hände und Knie fallen und kroch auf allen vieren weiter, vorsichtig Blätter und Zweige teilend, um geräuschlos durch die Lücke zu gleiten. Sie hob niemals den Kopf, um über einen Felsblock, Baumstamm oder Stumpf hinwegzublicken, sondern sah sich nur wachsam um und hielt den Kopf so dicht wie möglich am Boden; und sie achtete stets sorgfältig darauf, sich niemals als scharfumrissene Silhouette gegen einen hellen Hintergrund abzuheben, wie zum Beispiel gegen einen Baumstamm oder – als sie auf eine Lichtung gelangte – gegen den Himmel. Ihre Bewegungen waren so fließend und geschmeidig wie die einer Schlange, und sie dachte voller Stolz, daß selbst Stavan sie wahrscheinlich nicht hätte entdecken können, wenn er nach ihr gesucht hätte. Aber sie hätte sich ihre raffinierten Manöver ebensogut sparen können, denn von Luma war weit und breit keine Spur zu sehen: nicht ein einziger Fußabdruck neben ihren eigenen; nicht einmal ein schmutziges Blatt.
Als Fährtensucherin taugt sie wirklich nicht viel, dachte Keshna und bewegte sich etwas weniger vorsichtig, denn wenn Luma es in der Zwischenzeit noch nicht einmal bis hierher geschafft hatte, dann mußte sie Keshnas Fährte bereits vor längerer Zeit verloren haben, möglicherweise schon am Strand. Vielleicht hatte die Flut eingesetzt, oder Luma hatte eine falsche Abzweigung genommen. Das war nun wirklich ein erfreulicher Gedanke. Keshna sonnte sich in der Vorstellung, ihre
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