Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
den Dornenbüschen zusetzte. »Hier werdet ihr den Rest des Sommers über schlafen«, hatte er befohlen und dabei auf den steinigen Boden gezeigt. »Und zwar ohne Moos oder Blätter als Unterlage und ohne Decken zum Schutz gegen die Kälte. Ihr werdet in dem kältesten Bach baden, den ich finden kann; ihr werdet rohe Wurzeln, Beeren, Nüsse und rohes Fleisch essen – von Tieren, die ihr selbst erlegt habt –, weil Rauch zu leicht zu riechen und Feuer zu leicht zu sehen ist. Ich werde euch so zäh und widerstandsfähig machen, daß ihr es mit jedem Krieger aufnehmen könnt. Ihr werdet mich beide hassen, bevor das hier vorbei ist – und wenn ihr mich nicht haßt, kann das nur bedeuten, daß ich euch nicht hart
genug rangenommen habe. Aber wenn ihr dann das erste Mal gegen Nomaden kämpft, werdet ihr meinen Namen preisen.«
Luma hatte wichtigere Dinge zu tun, als Aita Stavans Namen zu preisen, während sie Keshna hinterherjagte, doch sie mußte zugeben, daß er sie in den vergangenen zwei Monaten bis zur völligen Erschöpfung getrieben hatte. Infolgedessen war sie sich ihrer eigenen Kraft deutlicher bewußt als je zuvor. Manchmal war Keshnas Fährte deutlich zu erkennen, manchmal mußte Luma stehenbleiben, um den Strand nach Spuren abzusuchen. Keshna war bei ihrer Flucht über den Strand häufig durch die Wellen gelaufen. Jedesmal wenn ihre Spur im Wasser verschwand, blieb Luma keine andere Wahl, als aufs Geratewohl weiterzugehen und einer imaginären Fährte zu folgen, bis sie wieder irgendeinen Hinweis fand.
Als die Sonne den Zenit überschritten hatte und langsam gen Westen wanderte, brannte der Atem in Lumas Lungen. Ihre Füße waren fast taub vor Schmerz, und ihre Beine pochten so heftig, als hätte ihr jemand mit einem Stock dagegen geschlagen. Die alte Luma hätte unter diesen Bedingungen kampflos aufgegeben. Sie hätte sich mit dem Gesicht voran in den Schatten eines Busches geworfen und keuchend vor Erschöpfung alle viere von sich gestreckt, doch die neue Luma lief unbeirrt weiter.
Schließlich bog Keshnas Spur landeinwärts ab auf den Wald zu. Erleichtert über die Aussicht, vielleicht endlich der Hitze zu entrinnen, folgte Luma den Spuren Richtung Westen. Es war eine günstige Tageszeit, um das zu tun: Denn mit der Sonne im Rücken hoben sich kleine Abdrücke und Einbuchtungen, die sonst unsichtbar gewesen wären, jetzt deutlich vom Untergrund ab. Und Luma konnte nicht umhin zu denken, daß Keshna einen schweren Fehler gemacht hatte, als sie es versäumte, den Stand der Sonne in Betracht zu ziehen. Ein höchst aufmunternder Gedanke. Dennoch gab es hier, weit weg vom Strand, noch weniger, woran sie sich halten konnte; und manchmal, wenn sie den Waldboden nach Hinweisen absuchte, war sie überzeugt, Fußabdrücke zu sehen, wo in Wirklichkeit gar keine waren.
Sie kam an einen schlammigen Teich und sah eine trockene Seeschildkröte, die sich auf einem umgestürzten Baumstamm sonnte, und das gab ihr zu denken. Eine trockene Seeschildkröte war ein Anzeichen dafür, daß an dieser Stelle schon seit längerem niemand vorbeigekommen war, während eine nasse Schildkröte immer eine Warnung war. Die Schildkröte krabbelte hastig von dem Baumstamm und ließ sich mit einem Plumps in den Teich fallen, und Luma eilte weiter, wachsam nach Vögeln Ausschau haltend, die plötzlich aufflogen; nach Büschen, die verdächtig zitterten, obwohl sich kein Lüftchen regte, oder nach sonstigen Anzeichen, die Keshnas Anwesenheit verraten konnten. Sie spitzte die Ohren und bemühte sich angestrengt, über das Geräusch ihrer eigenen Schritte hinweg den Warnruf von Eichelhähern zu hören, das aufgeregte Keckem von Eichhörnchen oder die plötzliche Stille, die einem Angriff vorausging. Schließlich hielt sie inne, spuckte den Kieselstein in ihre Hand und stand einen Moment lang reglos da, den Mund leicht geöffnet, damit sie besser hören konnte. Dies war einer der Tricks, die Stavan ihr beigebracht hatte, aber bis auf das Rauschen des Windes in den Bäumen hörte sie nichts.
Ein Stück weiter vorne wartete Keshna schon auf sie. Zunächst war sie in einem kleinen Weidenhain am Ufer eines Baches in Deckung gegangen und hatte sich hinter den langen, tief herabhängenden Zweigen versteckt. Ihr Plan war einfach gewesen: Da Luma so erpicht darauf war, sie zu finden, würde sie versucht sein, jeder Spur zu folgen, ganz gleich, wohin sie führte. Deshalb hatte Keshna einfach eine Reihe verschmierter Fußabdrücke an dem
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