Alzheimer und Demenzen
verstehen
Wenn ein Mensch an einer Demenzerkrankung leidet, ist er immer weniger in der Lage, seine Selbstoffenbarungen, d. h. seine eigenen Bedürfnisse, die ihn zu einer bestimmten Äußerung motivieren, zu reflektieren und klar zu erkennen – geschweige denn diese nachvollziehbar zu kommunizieren. Es wird daher für mich als Angehörige immer schwieriger, seine Gefühle und Bedürfnisse hinter einer Äußerung oder Handlung zu entschlüsseln. Weil ein derart schwer verstehbares Verhalten eine echte Herausforderung an mich als Kommunikationspartnerin stellt, wird es in der neueren Fachliteratur auch als »herausforderndes Verhalten« bezeichnet. Dieser Begriff soll also nicht implizieren, dass der Kranke sich so verhält, um andere Menschen zu provozieren, sondern dass sein Verhalten die ganze Empathie und Einfühlungsfähigkeit seiner Kommunikationspartner herausfordert, um verstanden werden zu können.
Nehmen Sie die Gefühlsseite unter die Lupe: Welche Gefühle stecken hinter der Äußerung Ihres demenzkranken Angehörigen? Welches Bedürfnis ist nicht befriedigt?
Inhalt und Selbstoffenbarung decken sich nicht
Besonders schwierig fällt mir das Einfühlen und Verstehen, wenn der Kranke nicht mehr orientiert ist,
wenn er also glaubt, in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort zu leben oder
wenn er die aktuelle Situation nicht mehr richtig einschätzt und Menschen, Ereignisse oder Dinge seines Lebens nicht mehr als zu sich und seinem Leben gehörig erkennt.
Denn in dem Maße, in dem er seine geistigen Fähigkeiten verliert und hinsichtlich Raum, Zeit, Situation und eigener Person desorientiert ist, entspringen seine Aussagen auf der Sachinhaltsseite einer Weltsicht, die sich immer weniger mit der eines nicht demenz kranken Menschen deckt. Dann lebt er tatsächlich in einer eigenen Welt: in einer vergangenen Zeit, mit Personen aus seiner Vergangenheit oder mit Personen, die seinen Phantasien entspringen, mit seinen Ängsten und Erinnerungen. Er sieht und hört und erlebt Dinge, die andere nicht sehen und hören können!
Das heißt, er äußert auf der Sachinhaltsebene Inhalte und Behauptungen, die ich als Angehörige als »unzutreffend« und »falsch« bewerte. Die Herausforderung, die diese Situation an mich und mein Einfühlungsvermögen stellt, ist es nun »hinter« dieser Aussage das Gefühl und Bedürfnis zu erkennen, das den Kranken in diesem Augenblick bewegt.
»Nachts lauert eine schwarze Person vor meiner Balkontür!«
Aussage akzeptieren.
Mein Angehöriger berichtet, er schlafe nachts nicht, weil eine fremde schwarze Person immer vor seiner Balkontür lauert. Die Nachricht auf der Inhaltsseite lautet also: »Nachts lauert eine fremde schwarze Person vor meiner Balkontür.« Würde ich einfach auf diese Inhaltsnachricht reagieren, bliebe mir nur eine Möglichkeit: Ich würde überprüfen, ob die Aussage stimmt, und wenn ich feststellte, dass nachts niemand auf dem Balkon steht, würde ich dem Kranken berichten, dass er sich täusche. Aller Erfahrung nach ist so eine Reaktion aber nicht hilfreich. Denn die »fremde schwarze Person« verkörpert ein tiefer liegendes Gefühl, das nicht dadurch verschwindet, dass ich die Vorstellung von der fremden schwarzen Person einfach überprüfe. Wenn ich mich aber der Herausforderung an meine Empathiefähigkeit stelle, dann versuche ich hinter diese Nachricht zu hören: Welches Gefühl steckt dahinter? Was sagt mir der Kranke von sich selbst und seiner Bedürfnislage?
Angst ist Auslöser.
Hinter der »fremden schwarzen Person« steht vermutlich das ängstliche Gefühl, sich allgemein bedroht zu fühlen, vielleicht auch die Angst verlassen zu sein. Wenn ich also das Gefühl erkenne und es dem Kranken zurückmelde, kann ich ihm tiefes Verständnis vermitteln. Zu spüren, dass ein anderer Mensch Verständnis für meine Gefühle hat, wirkt beruhigend und tröstend. Die Möglichkeit, den Kranken zu beruhigen und zu trösten, ist also viel größer, wenn ich auf seine Selbstoffenbarung lausche, als ihm auf der Sachebene zu begegnen. Es ist also sinnvoller und für den Kranken viel hilfreicher zu sagen: »Du hast wohl nachts große Angst. Lass uns überlegen, was wir dagegen tun können!«, als ihn einfach mit der Realität zu konfrontieren: »Auf deinem Balkon steht niemand!«
Hinter Wut steht oft ein tiefes Bedürfnis
Noch viel schwieriger ist es für mich als Angehörige, wenn der Demenzkranke seine herausfordernden Äußerungen und Verhaltensweisen mit
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