Alzheimer und Demenzen
heftiger, in meinen Augen unangemessener Aggression hervorbringt oder in einer Weise ausdrückt, die mich beleidigt oder verletzt.
In Schulungsgruppen und Gesprächskreisen, in denen Angehörige von ihren Erfahrungen mit ihren demenzkranken Familienmitgliedern berichten, kommen solche aggressiven Situationen immer wieder zu Sprache:
Da explodiert eine demenzkranke Frau und beschimpft ihre Tochter heftig, sie solle sie doch in Ruhe lassen, weil diese ihr bei der Körperhygiene helfen will, die sie in den Augen der Tochter alleine nicht mehr gründlich genug durchführen kann.
Da greift eine demenzkranke Frau ihren Ehemann scharf mit Worten an und behauptet, er wolle sie aus ihren Arbeitsbereichen herausdrängen, weil er sich nun um die Essenszubereitung kümmert, die ihr seiner Meinung nach nicht mehr gelingt.
Da schreit ein demenzkranker Mann seinen Sohn an, als dieser ganz vorsichtig versucht, seinen Vater dazu zu bewegen, das Autofahren einzustellen, weil es mittlerweile einfach zu gefährlich geworden sei.
Für das Einfühlungsvermögen eines Angehörigen stellen solche Situationen große Herausforderungen dar! Warum nur, so fragen sie sich, reagiert er bzw. sie so unangemessen?
Die Gründe liegen oft in der Vergangenheit
In manchen Situationen ist das tiefe Bedürfnis, das den Kranken zu seiner Äußerung oder Handlung motiviert, tatsächlich schwer zu entschlüsseln. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn die aktuelle Situation bei dem Kranken ein Gefühl wachruft, das er bei einem früheren Ereignis in seinem Leben sehr stark empfunden hat, mir als Kommunikationspartnerin dies aber nicht mitteilen kann, weil es ihm selbst gar nicht bewusst ist.
Da berichtet eine Angehörige z. B., dass ihre demenzkranke Mutter jedes Mal zu zittern beginne, sehr unruhig und schließlich auch verbal aggressiv werde, wenn morgens ein männlicher Pfleger vom ambulanten Hauspflegedienst komme, um sie zu waschen. Alle Beschwichtigungen und Erklärungen, dass sie doch nur gewaschen werden solle, würden hier nicht helfen. Unter Zuhilfenahme des Modells von Schulz von Thun können wir dieses »herausfordernde Verhalten« der Frau verstehen: Die rationalen Argumente der Tochter und des Pflegers sind auf der Sachinhalts ebene angesiedelt. Sie führen bei der demenzkranken Frau nicht zu dem gewünschten Erfolg, weil sie in diesem Moment deren reale Sachinhaltswelt gar nicht teilt! Sie ist offenbar in einer anderen Welt – der Welt ihrer erlebten Erinnerungen – und da nur sie zu dieser Welt einen privilegierten Zugang hat und nicht mehr in der Lage ist, anderen Menschen von ihrer Welt zu berichten, ist eine Verständigung auf dieser Ebene nicht möglich! Doch obwohl vielleicht weder die Tochter noch der Pfleger wirklich wissen, welches frühere Erlebnis die aktuelle Situation gerade wachruft, kann ihnen ihr Einfühlungsvermögen doch zeigen, welches Gefühl bei der demenzkranken Frau ausgelöst wird – offenbar ist es Angst – und welches ihrer Grundbedürfnisse gerade wohl nicht befriedigt ist: Das Bedürfnis nach Sicherheit!
Angehörige und nahe stehende Personen, die einen demenzkranken Menschen gut kennen, haben sicherlich noch das größte Wissen vonmöglichen Erlebnissen des Kranken, die in einer aktuellen Situation vielleicht wachgerufen werden, doch kein Mensch kennt das Leben eines anderen Menschen vollständig! Es wird demnach immer wieder Momente geben, in denen ich als Angehörige die Wurzel des mir unverständlichen Verhaltens des Kranken nicht kenne!
Die Grundbedürfnisse des Menschen nach Maslow.
Bezogen auf diesen Fall bedeutet das, dass ich als Angehörige die Gefühle der demenzkranken Frau akzeptiere – unabhängig davon, ob ich deren Wurzel kenne oder sie nachvollziehen kann – und nun nach Lösungen suche, um ihr nicht gestilltes Bedürfnis nach Sicherheit zu befriedigen.
wichtig
Den anderen als den zu akzeptieren, der er ist, macht die Grundhaltung der einfühlsamen Kommunikation aus! In der Philosophie der gewaltfreien Kommunikation wird diese Haltung als die Bereitschaft bezeichnet, die Andersartigkeit des anderen zu sehen und sie ihm zuzugestehen.
Bei den Überlegungen, welches Bedürfnis einer unverständlichen Äußerung zugrunde liegt, kann es sehr hilfreich sein, wennman sich einmal vor Augen führt, dass sich die Grundbedürfnisse eines demenzkranken Menschen von denen eines nicht demenzkranken Menschen gar nicht unterscheiden. Schon 1954 hat der amerikanische Psychologe Abraham Maslow die Theorie
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