Am Abend des Mordes - Roman
dürfen ruhig wütend auf mich sein, hatte Rönn erklärt. Das kann ein gesunder Teil des Heilungsprozesses sein.
Zum Teufel, hatte Barbarotti gedacht.
Aber heute, an seinem Schreibtisch, war kein Zorn in Reichweite. Nur stumme Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Er schaltete die Musik aus, faltete die Hände und betete.
Gütiger Gott im Himmel, entschuldige, dass ich mich nicht gemeldet habe, aber es ist so schwer gewesen. Das weißt du genauso gut wie ich. Aber gib mir jetzt doch bitte ein Zeichen, ich halte es bald nicht mehr aus. Einen Strohhalm, ein Bibelwort, irgendetwas. Ich bin in größter Not, ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob ich ohne Marianne leben kann. Ich weiß nicht, ob ich dazu die Kraft haben werde. Wo ist sie? Hast du sie in deine Obhut genommen?
Dann schloss er die Augen und versuchte, sein inneres Ohr zu schärfen.
Anfangs, in den ersten fünfzehn oder zwanzig Sekunden, merkte er nichts. Danach ertönte ein diskretes Räuspern, gefolgt von der vertrauten Stimme, der richtigen, nicht seiner eigenen.
Der Brief an die Hebräer 11: 32-40, könnte dir das vielleicht den Weg weisen?
Inspektor Barbarotti flocht die Hände auseinander, öffnete die Augen mit Blick auf den weiterhin unruhigen Himmel und dankte. In seinem Büro hatte er keine Bibel, aber er notierte sich die Stelle in seinem Block. Riss die Seite heraus und steckte sie ins Portemonnaie.
Lehnte sich über den Schreibtisch, kehrte zum portugiesischen Blues zurück und wandte sich erneut dem Fall Arnold Morinder zu.
Die Personen im Umfeld des verschwundenen Elektrikers, die sich zu seinem Charakter geäußert hatten, waren im Großen und Ganzen einer Meinung gewesen.
Morinder war – oder alternativ: war gewesen – ein schüchterner und zurückgezogener Typ.
Die Frau, mit der er in den achtziger Jahren für sehr kurze Zeit verheiratet gewesen war – Laura Westerbrook −, hatte über ihre Ehe im Grunde nur zu sagen gehabt, dass sie von Anfang an ein Irrtum gewesen war. Sie war Engländerin, geboren und aufgewachsen in Birmingham, und nach Schweden gekommen, weil sie in einem Land leben wollte, in dem jemand wie Ingmar Bergman gearbeitet hatte und immer noch arbeitete. Morinders schmollende Schüchternheit hatte sie als Tiefsinn und existentielle Schwermut interpretiert, bis ihr bewusst wurde, dass es simpler war. Sie waren so hurtig getrennte Wege gegangen, wie ein geschickter Koch Eigelb von Eiweiß trennt.
Morinder war nicht das Eigelb gewesen.
So stand es wortwörtlich im Vernehmungsprotokoll, und Barbarotti erkannte, dass dieses Ziehen in den Wangen das Vorstadium zu einem Lächeln gewesen sein könnte. Es ging nach Bruchteilen einer Sekunde vorüber, aber seit dem 29. April war es das erste Mal.
Immerhin etwas.
Dass Arnold Morinder kein geselliger Mensch war, wurde auch ansonsten mit Akkuratesse herausgearbeitet, und die Frage, wie Ellen Bjarnebo und er ein Paar wurden, blieb durch die gesamten gut hundert Seiten, die Barbarotti an diesem grauverhangenen Maitag durchforstete, unbeantwortet.
Sie waren sich in einer Gaststätte begegnet, genauer gesagt in der Brasserie Långe Jan in der Heimdalsgatan an einem Abend im September 2005, aber das waren nur ein Zeitpunkt und ein Ort, und die Version basierte auf Ellen Bjarnebos eigenen Angaben. Es war im Übrigen dasselbe Restaurant, in dem es einige Monate vor Morinders Verschwinden zu dem mehrfach erwähnten Zwischenfall gekommen war. Zu diesem kleinen Intermezzo gab es drei Zeugenaussagen, zum einen von einem Kellner, zum anderen von zwei Gästen, die sich am besagten Abend im Lokal aufgehalten hatten. Worum es bei dem Streit eigentlich gegangen war, konnte niemand sagen, aber Stimmen waren laut geworden, Morinder hatte mit der Faust auf den Tisch gehauen, und seine Begleiterin war in einer Gemütsverfassung zur Tür hinausmarschiert, die man wahrscheinlich als wutentbrannt bezeichnen konnte. Einem der beiden Gäste zufolge hatte sie außerdem zwischen zusammengepressten Lippen gemurmelt: Auge um Auge, Zahn um Zahn! Diese Äußerung wurde von Ellen Bjarnebo jedoch entschieden geleugnet; dagegen gab sie zu, dass ihr Lebensgefährte und sie sich gestritten hatten, weigerte sich aber, auf den Grund für ihren Konflikt einzugehen. Er habe jedenfalls nichts mit seinem Verschwinden zu tun gehabt, hatte sie auf Ehre und Gewissen geschworen.
Da das Paar Morinder-Bjarnebo weder Freunde noch Bekannte hatte, gab es niemanden, der Einblick in ihre Beziehung besaß. Die Nachbarn in
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