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Am Abend des Mordes - Roman

Am Abend des Mordes - Roman

Titel: Am Abend des Mordes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H kan Nesser
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wirklich keine kleinen Kinder mehr, Papa. Sie brauchen dich, aber nicht so. Nicht die ganze Zeit, nicht jeden Tag.«
    »Das ist mir bewusst, Sara. Wir können ja in ein paar Tagen noch einmal telefonieren, dann sehen wir weiter.«
    »In Ordnung, Papa, und du vergisst nicht, dass du mich jederzeit anrufen kannst?«
    »Das vergesse ich nicht, Sara.«
    »Schön. Dann meldest du dich, sobald du weißt, wann du kommst. Spätestens Morgen.«
    »Ja, natürlich. Danke für den Anruf, Sara.«
    »Ich liebe dich, Papa. Du schläfst natürlich auf meiner Couch.«
    »Ich liebe dich auch, Sara. Viel Erfolg beim Lernen.«
    Damit legten sie auf. Er spürte, wie sich die Gefühle aus Licht und Dunkel in seinem Inneren umverteilten. Oder vielmehr, dass ein dünner Lichtstreif versuchte, sich mit all dem Dunklen zu vermischen. Zwei Tropfen Milch in einem schwarzen, sehr schwarzen Kaffee … wie hieß das noch? Macchiato?
    Er stürzte seinen eigenen halblauen und milchfreien Kaffee hinunter. Bevor er nach Klein-Burma zurückkehrte, dachte er eine Weile an Sara.
    Sie war erwachsen. Wenn man vierundzwanzig war, musste man wohl so betrachtet werden. Darüber hinaus hatte sie von allen Kindern am wenigsten Kontakt zu Marianne gehabt – weil sie im Grunde schon nicht mehr zu Hause wohnte, als sie in die Villa Pickford zogen. Anfangs und anlässlich ihrer Trennung von Jorge, ihrem ersten richtigen Freund, hatte sie zwar gelegentlich einige Monate bei ihnen gewohnt, aber in den letzten Jahren, seit ihrem Umzug nach Stockholm, hatte sie auf eigenen Beinen gestanden.
    Was für ein idiotischer Ausdruck. Auf eigenen Beinen stehen . Was bedeutet das? Ist es das, was ich gerade lerne? Läuft diese Trauertherapie darauf hinaus? Den Schmerz zu lernen und die grundlegenden Bedingungen zu akzeptieren? Dass man einsam geboren wird und einsam stirbt? Auf zwei Beinen.
    Er dachte darüber hinaus, dass er Sara mehr liebte als seine anderen Kinder, falls ein solcher Vergleich überhaupt statthaft war. Nach seiner Scheidung von Helena hatte sie sich dafür entschieden, bei ihm zu wohnen; während ihrer ganzen Kindheit und Jugend, mehr oder weniger täglich, waren sie sich nahe gewesen, und es war unausweichlich, dass dies Spuren hinterließ. Gute und lebenslange Spuren. Von den Jungen war er – abgesehen von Sommerferien und verlängerten Wochenenden – dagegen mehr als fünf Jahre getrennt gewesen, was andere Spuren gezeitigt hatte. Vielleicht hatte er sie im Stich gelassen, der Gedanke kam ihm immer wieder. Er hätte sich nicht darauf verlassen dürfen, dass Helena ihnen eine gute Mutter sein würde, aber woher hätte man das wissen sollen? Jedenfalls gewann er manchmal den Eindruck, vor allem nach Mariannes erstem Aneurysma, dass Jenny eine Art Neuauflage von Sara war. Er sprach es niemals aus, auf gar keinen Fall, aber es war schon vorgekommen, dass er diese alte Wärme ums Herz empfunden hatte, wenn sie zusammengesessen und sich über das eine oder andere unterhalten hatten. Eine Saite mit einem ganz eigenen Ton. Dass sie außerdem gemeinsam so richtig trauern konnten, sprach natürlich auch eine deutliche Sprache.
    Aber für ein Wochenende nach Stockholm? Nur er und Sara? Warum nicht?
    Er beschloss, sich die Sache reiflich zu überlegen, und vertiefte sich wieder in die Arbeit.

    Tatsächlich steckte Inspektor Backman an diesem zähen Mittwoch zwei Mal den Kopf zu Inspektor Barbarottis Tür herein. Beim zweiten Mal, gegen Viertel nach drei, wurde er sich ihres Besuchs jedoch nicht bewusst, da er weit zurückgelehnt auf seinem Bürostuhl saß und mit aufgerissenem Mund schlief. Sein Kopf hing schief, und ein dünner Speichelstrang lief über Wange und Kinn. Eva Backman zog vorsichtig die Tür zu und dachte, dass dies vermutlich genau das war, was er brauchte.
    Im Moment zumindest. Was er in Zukunft und auf einer anderen Ebene brauche würde, war ihr beim besten Willen nicht klar.
    Ebenso wenig wie die Rolle, die sie selbst dabei spielen sollte. Was tat man? Wie kümmerte man sich um jemanden wie Gunnar Barbarotti? Sie war sicher, dass es keinen anderen Menschen gab, der ihn besser kannte als sie – seit Marianne nicht mehr lebte. Sie waren seit nunmehr zwanzig Jahren Kollegen und eng befreundet, Marianne hatte auch ihr nahegestanden, und wenn es jetzt so aussah, als würde Barbarotti Gefahr laufen, in seiner Trauer zu versinken, war es selbstverständlich Eva Backmans Aufgabe, ihn da herauszuholen.
    Wie eine geübte Schwimmerin fühlte sie sich

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