Am Anfang war das Ende (German Edition)
entgegengesetzte Wirkung zu haben und sie zu stärken.
Auf einmal ging mir auf, was passiert war, ich begriff, warum das Wasser nicht mehr anstieg und was die hohen Schatten zu bedeuten hatten: Es waren Häuser! Das Holzdeck hatte sich von der Schule losgerissen. Es waren tatsächlich wir, die an den Häusern der Stadt vorbeischwammen!
Ich warf mich aufs Deck und streckte die Arme aus.
»Hilfe!«, brüllte ich. »Dinah, Hilfe!« Doch in Wirklichkeit drang kein Wort über meine Lippen.
Es wurde schwarz. Ich weiß nicht, was dann geschah. Ab hier habe ich eine große Erinnerungslücke.
Danach
Es gibt Weltall, Sonnen, Atome.
Es gibt ein Wissen, strategisch auf festen Punkten erbaut.
Es gibt ein Wissen, unverteidigt, auf unsicherer Leere erbaut.
Es gibt eine Leere zwischen Weltall, Sonnen, Atomen.
(Was kümmern mich Weltall, Sonnen, Atome.)
Es gibt zu allem einen ungeraden Gesichtspunkt
in diesem doppelten Leben.
Gunnar Ekelöf
I
Die Tage reihen sich namenlos aneinander, alle gleich leer. Gleich grau. Es stürmt unablässig, und das schwere Floß bewegt sich wie ein Rindenschiffchen in den gewaltigen Wellen auf und ab. Wir liegen unter der Überdachung, haben die Segel gerefft. Manchmal hören wir, wie ein Schwarm weißer Vögel über uns angesegelt kommt und in verzweifelte Schreie ausbricht, bevor er wieder im grauen Dunst verschwindet. Die weißen Vögel begleiten uns schon seit einiger Zeit, und wir fragen uns, warum. Wir versuchen zu schlafen, doch die donnernden Wassermassen, die übers Floß stürzen, wenn die Wellenkämme brechen, lassen uns keine Ruhe finden. Wir schließen die Augen in kurzen Intervallen, jeweils für ein paar Minuten, wie Tiere.
In einem dieser Intervalle hören wir plötzlich Dinah rufen. Ihre Stimme löst sich für einen kurzen Augenblick von den vielen Geräuschen des Wassers, aber wir verstehen nicht, was sie schreit. Wir rappeln uns auf, halb sitzend, und spähen in das große Grau, können Dinah aber nicht sehen. Da ertönt ihre Stimme erneut, ein gellender Schrei, ganz ähnlich wie der Schrei der Vögel. Dinah weiß, das ist die einzige Möglichkeit der Verständigung. Sie und David beherrschen sie am besten. Diesmal können wir ihre Stimme deutlicher hören. Vielleicht schreit sie lauter. Ihre Nachricht ist kurz, das ist sie immer. Aber der Inhalt überrumpelt uns.
»… AND «, hören wir sie schreien.
Wir sehen uns in der Dunkelheit an. Ich spüre, wie mein Herz aufwacht und zu pochen beginnt. In den Augen der anderen spiegelt sich meine eigene Unruhe. Und die Verblüffung, die Hoffnung, die wie Funken in der grauen Dunkelheit aufglimmen.
Land, denken wir und spitzen die Ohren, um Dinahs Stimme zu orten. Wir wollen mehr hören, wollen die Hoffnung bestätigt wissen. Endlos lang sitzen wir nur da und warten, außer dem Dröhnen der Wellen ist nichts zu hören. Dinah meldet sich nicht mehr. Die Stimme, die wir gehört haben, kommt uns jetzt vor wie eine Illusion, ein Wunschgebilde, reine Einbildung. Schließlich geben wir auf, sinken wieder zusammen und kehren in unseren Dämmerzustand zurück.
Ich schließe die Augen, schlafe aber nicht ein. Dinahs Ausruf hat etwas in mir geweckt, das ich für verloren gehalten hatte. Es dauert eine Zeitlang, bis ich ein Wort finde, das zu diesem Gefühl passt. Ich muss lange im Wortvorrat wühlen. (Für den Wortvorrat bin ich verantwortlich.) Aber schließlich finde ich das Wort, und als ich dessen Bedeutung begreife, bleibt mir kurz die Luft weg.
Sehnsucht!
Das Wort rollt wie eine warme Kugel in meinem Magen herum, kitzelt und wärmt mich, ja, fast brennt es, als ich
Sehnsucht
hin und her wende. Die warme Kugel will nach oben steigen, ich fühle sie im Brustkorb, im Hals und schließlich im Mund. Plötzlich ist mein Mund voller Buchstaben. Ich bin machtlos. Das Wort hat mich in seiner Gewalt, und irgendwann kann ich mich nicht mehr dagegen wehren. Ich öffne den Mund, versuche Kopf und Oberkörper möglichst weit vornüber zu beugen und spüre, wie etwas Lauwarmes in einer hellen Kaskade aus mir ins Grau schießt.
Sehnsucht
, denke ich und lecke mir den Mund sauber.
II
Dass ich mich so übergeben musste, ist seltsam, denn nur kurz darauf bricht in dem großen Grau ein Riss auf. Der Riss wächst schnell wie ein Lichtblitz, ich kann ihn nur anstarren und spüre, dass ein neuer Wortschmerz in mir geweckt wird.
Wie wenn man einen Reißverschluss öffnet
, denke ich. Zuerst erschrecke ich, weil ich befürchte, die Erinnerung
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