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Am Anfang war das Ende (German Edition)

Am Anfang war das Ende (German Edition)

Titel: Am Anfang war das Ende (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Casta
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des Floßes zubewegt. Dann werden Dinahs Geräusche vom Tosen des Wassers ertränkt. Langsam öffne ich die Augen. Sie brennen immer noch, aber die graue Feuchtigkeit tut gut. Ob ich mich jemals wieder an Licht werde gewöhnen können? Es gibt so vieles, was ich gern wüsste. Aber für Grübeleien ist jetzt keine Zeit. Gegrübelt habe ich inzwischen genug. Jetzt haben wir vielleicht eine neue Chance, die erste seit langem. Das heißt, wenn es nicht nur ein ungewöhnlich langes Aufblitzen gewesen ist. Ich warte noch kurz darauf, dass Dinahs Stimme sich durch die Feuchtigkeit bohrt und mir die Hoffnung wiedergibt. Doch Dinah lässt nichts mehr von sich hören. Nicht einmal die Schreie der weißen Vögel erreichen mich mehr.
    Stattdessen höre ich, dass die anderen angefangen haben sich zu bewegen. Flüsternde Stimmen vermischen sich mit dem monotonen Lied des Wassers. Dinahs Ruf hat Hoffnungen geweckt. Vielleicht werden sie diesmal wahr.
    »Was ist los, Judit?«
    »Ich weiß nicht. Dinah ist nach vorn gegangen.«
    »War das tatsächlich echtes Licht?«
    »Glaub schon, Gabriel.«
    »Endlich.«
    Dann ertönt ein Knall. Ein heller Riss wächst mit Blitzgeschwindigkeit im großen Grau. Dann ein neuer Knall.
    »Macht die Augen zu!«, rufe ich im selben Augenblick, als sich das Licht auf uns stürzt.
    » LAND !«, ruft Dinah zum zweiten Mal.

V
    So war das, als unsere Fahrt zu Ende war und wir unser Ziel erreichten.
    An Bord bricht Freude aus. Wir jubeln, klatschen in die Hände, fallen uns in die Arme. Nach einer endlos langen Reise, auf der nur der unmerkliche Wechsel zwischen hellerem und dunklerem Grau den Unterschied zwischen Tag und Nacht markierte, haben wir Festland erreicht.
    Das Wasser hat sich beruhigt, und das große Floß schaukelt schwer auf den breiten Wellen. Inzwischen sitzen wir unter der Überdachung und warten auf die Nacht. Wir sind das Licht nicht mehr gewöhnt. Gabriel hat aus meinem Schal provisorische Augenbinden gemacht, die tragen wir jetzt.
    »Wie lange dauert es noch?«, frage ich.
    »Keine vierundzwanzig Stunden mehr«, sagt Dinah. »Gleich wenn es dämmert, hissen wir die Segel.«
    »Wo sind wir?«, fragt David, obwohl er weiß, dass es auf diese Frage keine Antwort gibt. Ich glaube zu hören, wie Dinah die Schultern zuckt und seufzt.
    »Wir müssen abwarten, David«, sagt sie. »Wir können überall und nirgendwo sein.«
    »Glaubst du, es gibt dort Menschen?«
    »Klar.«
    Es folgt ein erwartungsvolles Murmeln.
    Als die Dunkelheit fällt, nehmen wir die Augenbinden ab. Wir stehen an der Reling und spähen dem Kontinent entgegen, dem wir uns nähern. Aber das Einzige, was wir sehen, ist kompakte schwarze Dunkelheit. Keine Spur von Licht, kein Feuerschein, keine Düfte. Wenn Dinahs Rufe nicht so überzeugend geklungen hätten, würden wir bezweifeln, dass in dieser Finsternis überhaupt irgendetwas existiert.
    Dann gibt sie das Kommando »Segel hissen!«, und an Bord bricht fieberhafte Aktivität aus. David und ich rollen die Schafsfelle aus und nehmen die anstrengende Arbeit in Angriff, sie an den Tauen festzuzurren. Schon nach kurzer Zeit rinnt mir der Schweiß über den Körper.
    »Segel fertig!«, schreie ich.
    »Hissen!«
    David und Gabriel packen die Taue mit vereinten Kräften und hissen das Segel. Wir spüren, wie der Wind es packt und das Floß allmählich schneller wird. Dinah kommt her, stellt sich neben mich und legt mir eine Hand auf den Arm.
    »Ist dir was aufgefallen?«, sagt sie.
    »Was denn?«
    Sie schweigt kurz, als müsste sie erst Luft holen.
    »Am Himmel sind keine Sterne, Judit.«

VI
    Ich denke lange über Dinahs Worte nach und versuche mich an Nächte ohne Sterne zu erinnern. Aber meine Nachtbilder sind verblasst. Oder habe ich sie verdrängt? Jedenfalls sehe ich überhaupt keine Nächte vor mir, weder mit noch ohne Sterne. Ich sage einfach: »Die Sterne leuchten doch nicht jede Nacht, oder?«
    Dinah wendet sich zu mir um und schüttelt sachte den Kopf.
    »Doch, Judit, in jeder klaren Nacht leuchten die Sterne. In jeder klaren Nacht außer in dieser hier. Was mag das wohl bedeuten?«
    Darauf habe ich keine Antwort. Ich sage nur: »Dinah, ich hab Angst.«
    Dinah sagt nichts. Ich ahne, woran sie denkt. An das, woran wir alle denken. Unsere Zeit an Bord ist vielleicht bald zu Ende. Schon so lange sind wir zusammen unterwegs, haben wie eine Herde Tiere eng beisammen gelebt, haben aneinandergepresst geschlafen und Tang, Algen, Seegras, Muscheln, Quallen und vereinzelte Fische

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