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Am Anfang war das Ende (German Edition)

Am Anfang war das Ende (German Edition)

Titel: Am Anfang war das Ende (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Casta
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gegessen, alles, was uns in den Weg gekommen ist. Getrunken haben wir das Kondenswasser des ewigen Nebels. Es ist ein Albtraum gewesen, ein langer Halbschlaf, in dem das Licht uns nur in Form von kurzem Aufblitzen erreicht hat, wie die Störung in einem Fernsehbild. Wir sind vor Hunger fast bewusstlos gewesen und so schwach, dass unsere Beine nur gezittert haben, als wir aufzustehen versuchten. Aber zusammen haben wir uns geborgen gefühlt, das Floß ist unser Zuhause geworden, unsere Insel. Diese Zeit ist jetzt vielleicht zu Ende. Keiner von uns hat eine Ahnung, was uns stattdessen erwartet, ob eine bessere oder eine schlechtere Alternative.
    Wir segeln die ganze Nacht, stehen gemeinsam an der Reling und spähen ins endlose Dunkel, ohne etwas zu erkennen. In der Dämmerung ruft Dinah plötzlich zum dritten Mal:
    » LAND !«
    Da sehen wir, wie nah wir sind. In dem schwachen Morgenlicht erhebt sich etwas aus dem Wasser, ein Horizont aus grauen Schatten. Wir starren ihn an. Sehen die Konturen dessen, was Dinah Land nennt, und riesige Schwärme von weißen Vögeln, die über dem Land schweben. Der Anblick erinnert an nichts, was wir kennen. Es sieht nicht wie das Land aus, das wir erhofft haben.
    Plötzlich schrammt das Floß gegen etwas Hartes und schwankt so heftig, dass wir das Gleichgewicht verlieren und umfallen. Das Floß treibt nicht mehr weiter.
    Da öffnet Dinah wieder den Mund. »Wir sind angekommen«, sagt sie.

VII
    Wir stehen an der Reling und starren auf die Küste, bis das Brennen in den Augen unerträglich wird. Da verziehen wir uns unters Dach, um auszuruhen. Das Floß bewegt sich nicht von der Stelle. Wir sind auf ein Riff aufgelaufen, ein paar hundert Meter vom Land entfernt. Dinah meint, solange das Wasser ruhig bleibe, könnten wir so liegen bleiben. Die Frage ist, ob es uns gelingen wird, das Floß freizubekommen, oder ob wir die Flut abwarten müssen. Gibt es überhaupt noch eine Flut?
    »Besonders vielversprechend sieht das hier nicht aus, oder?«, bemerke ich vorsichtig.
    Dinah schweigt kurz. Dann sagt sie: »Erst mal abwarten. Immerhin sind wir an der Küste. Noch kann alles völlig normal sein.«
    »Glaubst du das wirklich?««
    »Wenn wir uns an das Licht gewöhnt haben, gehen wir an Land.«
    »Und wie lange wird das dauern?«
    »Zwei, drei Tage.«
    Wir unterhalten uns mit gedämpften Stimmen. Es ist ein gutes, ungewohntes Gefühl, nicht mehr schreien zu müssen, um gehört zu werden. Wir reden über das, was uns widerfahren ist, und sind alle vier nervös.
    Nachts schmiegen wir uns wieder aneinander, die kleine vertraute Schar – Dinah, Gabriel, David und ich. Aber diesmal fällt es uns schwer einzuschlafen. Wir wälzen uns hin und her, voller Gedanken, Hoffnungen und Unruhe. Die beißenden Hungergefühle ignorieren wir, wie wir es gelernt haben. Lauschen den Schreien der Weißvogelschwärme, die nie aufhören wollen.
    Mir gehen die Worte durch den Kopf, die ich in dem Moment dachte, als das Licht kam:
Wie wenn man einen Reißverschluss öffnet.
Jetzt fühle ich, wie sehr dieser Satz mit einem Bild aus der anderen, früheren Zeit verknüpft ist. Ich hätte nicht gedacht, dass es noch in mir lebt, nicht gewusst, dass ich es so lange mit mir herumgetragen habe.
    Ich sitze in einem Zimmer auf dem Boden. Ein kleines Tier will mir auf den Schoß kriechen, aber ich schiebe es energisch weg. Ich habe ganz allein meinen roten Overall angezogen und ziehe jetzt den Reißverschluss zu. Stolz stehe ich auf und schreie: »Bin jetzt groß!«
    Dann drängen andere Bilder herauf. Eines, das unbedingt in mein Bewusstsein will. Das Bild ist voller Licht. Und nicht nur das, es ist farbig. Ich sehe normales Tageslicht an einem ganz normalen Tag, in Farbe! Eine Straße, gesäumt von Autos und Bäumen. Ich sitze in meinem roten Overall auf einem wackligen Fahrrad und strample, was das Zeug hält. Mein Fahrrad fährt in Schlangenlinie auf dem Gehweg, immer kurz davor umzukippen, doch dann spüre ich, dass jemand das Fahrrad hinten festhält. Jemand, der wie ein schützender Engel neben mir hergeht und mich aufrecht hält. Dann schiebe ich den Helm zurück, der mir in die Stirn geglitten ist, kämpfe weiter mit den Pedalen und schwanke auf eine andere Person zu, die mit ausgebreiteten Armen am Ende der Straße auf mich wartet. Straße, denke ich. Bäume, Autos. Fahrrad, denke ich. Bevor die letzten Bilder auftauchen, wie ein Fausthieb ins Zwerchfell:
Mama! Papa!

VIII
    Drei Tage bleiben wir auf dem Riff liegen,

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