Am Anfang war das Wort
verblüfft von der Unordnung, den leeren Kaffeetassen, den Papieren, die überall herumlagen, sogar ein Kinderkleid entdeckte er auf einem der Bücherregale, und in einer Ecke des Zimmers ein angefangenes Puzzle. Er atmete tief ein und roch den wunderbaren Duft von Gemüsesuppe, der durch die große Tür hereindrang. Er bemerkte die persische Miniatur, die auf dem Schreibtisch stand, betrachtete die Obstbäume hinter Kleins Rücken, dachte an die Blumenbeete vor dem Haus und empfand eine Mischung aus Neid und Ungläubigkeit. Ein flüchtiger, mißtrauischer Gedanke kam ihm in den Sinn – »Das ist zuviel des Guten, das kann nicht wahr sein« – und verschwand gleich wieder. Der Gegensatz zwischen dem bewohnten, lebendigen Zimmer und der Ernsthaftigkeit der Bücher, hatte etwas Irreales. Carmina romana, konnte Michael den Titel eines Buches entziffern, das ganz oben auf dem Stapel neben seinem Sessel lag, aufgeschlagen, mit dem Rücken nach oben. Darunter entdeckte er kyrillische Buchstaben auf einem verstaubten, braunen Bucheinband. Das alles wies auf ein hohes intellektuelles Niveau hin und weckte, gegen seinen Willen, so etwas wie Respekt in ihm. Er betrachtete Arie Klein und dachte: Er ist ein moderner Renaissancemensch. Ein Mann des Geistes, ein Intellektueller, der es schafft, zugleich ein Mann der Familie zu sein, Gärtner, Koch (er bot Michael einen Teller Gemüsesuppe an, die er selbst gekocht hatte, und als Michael gekommen war, hatte er ihm Kaffee gemacht und ihm sogar ein Glas kaltes Wasser serviert, ohne zu fragen), alles in allem, dachte Michael, das genaue Gegenteil von Tirosch.
Jetzt muß ich nur noch herausfinden, überlegte er, warum Klein sich ausgerechnet mit dem Mittelalter beschäftigt und inwieweit diese Beschäftigung den Kontrast zwischen ihm und seinem verstorbenen Kollegen ausdrückt. Plötzlich hörte er wieder die klare Stimme, kräftig und voller Begeisterung, als er sich an die Vorlesungen im großen Hörsaal im Haus Meiser auf dem Giv'at Ram erinnerte.
Klein hustete, schaute Michael von seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch aus an und sagte zögernd: »Hm, ich habe Sie in den letzten beiden Tagen gesucht, weil ich glaube, daß ich Ihnen einiges erzählen sollte.« Er lächelte entschuldigend. »Ich erinnere mich an Sie aus dem Seminar über arabische und hebräische Lyrik im zwölften Jahrhundert.«
Michael betrachtete seine vollen Lippen, als er fortfuhr: »Ich war nicht sicher, hm ... ob die Leute, mit denen ich gesprochen habe, dieSache ernst genug genommen haben, vielleicht tue ich ihnen unrecht. Ich habe gedacht, sie sind zu jung und wissen nichts vom akademischen Leben.« Wieder hustete er und fuhr, sichtlich unbehaglich, fort: »Ich muß zugeben, daß ich Vorurteile gegenüber der Polizei habe, es fällt mir schwer, die zu überwinden.«
Michael wurde rot und schwieg.
»Die Dinge sind nicht so klar und deutlich, ich habe nicht das, was man ›Fleisch‹ nennt, keine wirklichen Fakten, nur Impressionen«, warnte Klein.
Von ferne waren weibliche Stimmen zu hören und das Geräusch von zerbrechendem Glas. Arie Klein wandte den Kopf und lauschte, lächelte entschuldigend und nahm geräuschvoll einen Schluck aus seiner Kaffeetasse, der ein Henkel fehlte.
»Ich wollte Ihnen erzählen, daß Ido mich in New York besucht hat, eigentlich hat er sogar bei uns gewohnt, in unserer Wohnung in Port Skyler, am Rand der Stadt. Ein großes, altes Haus, das meinem Onkel gehört, der damals gerade in Israel war. Ido war zweimal bei uns: eine Woche am Anfang seines Aufenthalts in Amerika, das zweite Mal drei Tage bevor er nach Israel zurückgekehrt ist.«
»Wie lange war er eigentlich dort, einen Monat?«
Klein nickte.
»Er ist wegen seiner Doktorarbeit hingefahren? Nur für einen Monat?«
Klein erklärte kurz die Sache mit dem Sonderstipendium vom Yivo Institute for Jewish Research, ein Forschungsstipendium, das Tirosch für Ido beschafft hatte. »Die erste Woche hat er in Bibliotheken verbracht und sich mit Fachleuten für Minderheiten in der Sowjetunion getroffen, die meisten natürlich Juden. Er hat sich auch mit Dissidenten getroffen. Mir erschien er sehr nervös und erregt.« Mit einem verzeihenden Lächeln fuhr Klein fort: »Wie wir alle eben sind, wenn wir neue Quellen auf unserem Forschungsgebiet entdecken.« Er schüttelte den Kopf. »Und in der letzten Woche seines Aufenthalts ist Ido in den Süden gefahren, nach North Carolina, um sich dort mit einem Rechtsanwalt zu treffen,
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