Am Anfang war das Wort
offen und hinter meinem Rücken, über meine ›familiären Neigungen‹. Die Tatsache, daß ich Menschen wie Ido oder Ja'el Eisenstein zu mir nach Hause einlud, daß ich sie meiner Frau und meinen Kindern vorstellte, daß sie bei uns aßen, war seiner Meinung nach ein eindeutiges Überbleibsel meiner Jugend in Rosch-Pina, wo, wie er es nannte, ein ganz besonderer Menschenschlag lebt. Als Ido schrieb, daß er in die Staaten kommen wolle, und uns bat, ihm beim Suchen einer Unterkunft behilflich zu sein, fanden wir es ganz natürlich, ihm anzubieten, er könne bei uns wohnen. Wir lebten in einem großen, geräumigen Haus mit einer abgetrennten Gästewohnung. In dem Jahr, in dem wir dort waren, haben wir oft Gäste aufgenommen. Es war ein Holzhaus auf dem Gelände der Marineakademie, mein Onkel ist dort Professor für Astronomie. Die Juden sind schon ein seltsames Volk.« Arie Klein legte die Hände zusammen, drehte sich seufzend um und schaute hinaus in den Garten.
Es herrschte die typische Stille eines frühen Nachmittags in Rechawja. Nur das Zwitschern von Vögeln war zu hören, und leise Musik. Michael wunderte sich, warum der andere nicht zur Sache kam. Da drehte sich Klein wieder um und sagte: »Ich habe das Bedürfnis, Ihnen den Hintergrund der Dinge zu erklären, als Exposition sozusagen, damit Sie verstehen, wie seltsam Ido war, als er von North Carolina zurückkam. Am ersten Tag sagte er nichts. Er kam spät an, etwa um elf Uhr abends – ich erinnere mich genau, weil ich mir schon Sorgen gemacht habe, in einem fremden Land, mit seinem Schulenglisch, ich habe gedacht, er wäre mit dem Auto irgendwo steckengeblieben. Ich machte mir Sorgen und wartete auf ihn. Schon als er zur Tür hereinkam, fragte ich, was los sei, weil er so blaß war und dunkle Ringe unter den Augen hatte, seiner Kleidung war allerdings nichts anzusehen. Er sagte, er sei bloß müde, und ich erinnere mich gut, was für einen seltsamen Blick er hatte, irgendwie erloschen. Doch ich habe seine Erklärung, er sei müde, akzeptiert.«
Klein deutete auf die Zigarettenschachtel, die auf dem Tisch lag, und fragte: »Darf ich?« Michael machte schnell eine einladende Handbewegung, zündete ein Streichholz an und beugte sich vor.
»Ich habe vor fünf Jahren aufgehört zu rauchen«, sagte Klein verlegen, dann sprach er schnell weiter: »Am nächsten Tag kam er nicht zum Frühstück herunter. Ich fuhr zu meiner Vorlesung, ohne ihn gesehen zu haben. Ich dachte natürlich, er schlafe noch. Ofra und die Mädchen waren nicht in der Stadt, sie trafen ihn damals nicht. Ich erinnere mich noch ganz genau an alles. Als ich zurückkam, fand ich ihn zu Hause vor, er saß im dunklen Wohnzimmer. Ich weiß nicht, ob ich es Ihnen richtig erklären kann«, Klein seufzte und stieß weißen Rauch aus, »Ido hatte nichts Romantisches, nichts irgendwie Extremes, und ich kannte ihn vom Beginn seines Studiums an, immer war er liebenswürdig und höflich. Sogar als seine Tochter geboren wurde, drehte er nicht durch. Er war ein beherrschter Mensch, neben ihm fühlte ich mich manchmal irgendwie laut, er hatte etwas Gezügeltes und Bedächtiges. Und plötzlich saß er in einem dunklen Zimmer. Als ich das Licht anmachte und fragte, warum er im Dunkeln sitze, sagte er entschuldigend, es sei ihm nicht aufgefallen.
Sein Gesicht sah gequält aus. Ich setzte mich ihm gegenüber und fragte mehrmals, was denn passiert sei. Plötzlich sagte er: ›Arie, wie lange kennst du Tirosch schon?‹ Und ich antwortete, was Sie schon wissen, daß wir gleich alt waren, daß wir uns im ersten Jahr, nachdem er eingewandert war, in Jerusalem getroffen hatten und seither eine enge Beziehung hatten. Aber Ido hörte mir gar nicht richtig zu. Er fragte, ob ich Tirosch wirklich kenne, wobei er das Wort ›wirklich‹ betonte. Ich versuchte, ironisch zu antworten, aber er weigerte sich, darauf einzugehen, er wurde zornig. Er hatte plötzlich etwas Erschreckendes an sich, einen Ernst wie Hermann Hesse in seinen Romanen.
Ich erkundigte mich nach seinen Erlebnissen in Washington, nach seinem Treffen mit dem Rechtsanwalt und dem Mann, der mit Ferber eingesperrt gewesen war, aber er beantwortete meine Fragen nur sehr kurz, was wirklich ungewöhnlich für ihn war. ›In Ordnung, in Ordnung‹, sagte er einige Male, und kehrte dann zu der Frage zurück, ob ich Tirosch wirklich kenne. Wieder versuchte ich zu fragen, ob man einen Menschen tatsächlich ›wirklich‹ kennen könne, aber er ging nicht darauf ein
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