Am Anfang war das Wort
Müdigkeit war verflogen. Einen Moment schien es ihm, als höre er, wie im Haus Musik abbrach, war sich aber nicht ganz sicher, bis die Tür aufging. Da vernahm er deutlich die Klänge eines Saiteninstruments und eines Klaviers. Er verstand nicht viel von Kammermusik. Als er sechzehn gewesen war, hatte ihm Becky Pomeranz gesagt, diese Musik verlange ein gewisses Erwachsensein, nur einmal hatte sie ihm das Forellenquintett von Schubert vorgespielt. Das Musikstück, das in Kleins Haus gespielt wurde, kannte er nicht. Er konnte nicht feststellen, ob es von einer Platte stammte. Und wie um ihm zu beweisen, daß es sich um keine Aufnahme handelte, hörte die Musik auf, statt dessen waren laute Kinderstimmen zu hören. »Sie spielen«, sagte Arie Klein, der ihn zu seinem Arbeitszimmer führte, das nicht weit vom Eingang lag, in einem entschuldigenden Ton, der kaum seinen Stolz verbarg, dann zog er die Zimmertür hinter sich zu.
»Normalerweise ist die Tür offen, die Frauen im Haus sind daran gewöhnt, nach Lust und Laune hereinzukommen«, sagte Klein, »und um die Wahrheit zu sagen, ich habe das normalerweise ganz gern.« Um die Tür schließen zu können, hatte er einen Stapel Bücher, der sie aufhielt, in eine andere Ecke des Zimmers tragen müssen. Nun ließ er sich schwer auf den Stuhl hinter seinem großen Schreibtisch sinken, der mit Papieren, aufgeschlagenen Büchern, Broschüren, Kopien und Kaffeetassen übersät war.
Das Zimmer war voller Bücher, überall lagen und standen sie herum, in Schränken, auf dem Boden, stapelweise, auch neben dem abgewetzten Sessel, auf dem Michael saß und schweigend von dem starken, bitteren Kaffee trank, den Klein gekocht hatte. An der Wand hinter Kleins Rücken befand sich ein großes, offenes Fenster zum Garten, im Zimmer hing ein Duft nach feuchter Erde und Blumen, gemischt mit Gemüsesuppe. Im Vergleich zur Hitze draußen war es hier angenehm kühl, was charakteristisch für die hohen Räume in Rechawja war.
In dem großen Gesicht Kleins las Michael Verwirrung und Schmerz, jedoch auch eine Empfindsamkeit, die so gar nicht zu seiner Körpergröße zu passen schien. Er hatte einen breiten, kräftigen Oberkörper, und Michael betrachtete die schweren Oberarme, die grauen Haare über der hohen Stirn, die breiten Hände mit den langen, schlanken Fingern.
»Wir haben sie nicht in die Schule geschickt, Mitte Juni lohnt sich das schon nicht mehr«, entschuldigte sich Klein, als wieder die Klänge einer Geige zu hören waren. Er spiele die erste Geige im Familien-Kammerquartett, erklärte er mit verhaltenem Stolz, nachdem er seine jüngste Tochter, ein etwa achtjähriges Mädchen mit milchweißer Haut, weggeschickt hatte. Sie hatte so lange an die Tür geklopft, bis er sie aufgemacht und ihr in entschiedenem Ton ein paar Worte zugeflüstert hatte. Die kleine Geige schwenkend, war sie wieder verschwunden. Seine Frau spiele Cello, sagte Klein, die älteste Tochter Klavier. Nur die mittlere Tochter, erklärte er mit einem Lächeln, verweigere jedes Interesse an klassischer Musik und kämpfe für ihr Recht, Popmusik zu hören. »Aber«, beendete er mit sichtbarer Befriedigung, »wir haben ein Quartett im Haus.«
Michael war hin- und hergerissen zwischen seiner Absicht, ein geschäftsmäßiges Verhalten an den Tag zu legen, und dem Wunsch, Klein näher kennenzulernen. Er erinnerte sich noch an dessen Vorlesungen: Michael hatte das abgeschlossen, was man damals an der Fakultät für hebräische und französische Literatur eine »Grundausbildung« nannte. Nur zufällig war er in Kleins Vorlesungen geraten. Es wäre ihm nicht eingefallen, einen Kurs in hebräischer Lyrik des Mittelalters zu belegen, doch man hatte ihm empfohlen, Klein zu hören, um eine Übung in Geschichte abzuschließen, die sich mit der moslemischen Eroberung im Mittelalter befaßte, und da ihm der Termin paßte, hatte er an dem Einführungskurs teilgenommen. Schon während der ersten Stunde war ihm wieder einmal bewußt, daß das Thema im Grunde überhaupt keine Rolle spielte – das Wichtigste war die Qualität des Dozenten. Es war Dr. Klein zu verdanken, damals noch ein junger Dozent an der Abteilung für hebräische Literatur, daß Michael lernte, daß die Texte von Ibn-Gabirol und Jehuda Halevi lebendig waren, Texte, die ihm im Gymnasium tot und langweilig vorgekommen waren, und im dritten Jahr seines Studiums, vor dem Bachelor of Arts, hatte er auch an einem Seminar Kleins teilgenommen.
Nun schaute er sich um,
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