Am Anfang war das Wort
deutete auf die Mädchen, »deswegen bin ich hier.«
Ein leichter, angenehmer Luftzug drang in Michaels Zimmer, doch die Luft war noch immer feucht. Der Mond über dem Magnolienbaum war herzergreifend schön. Den ganzen Tag über hatte Michael sich schon gefühlt, als sei er gegen seinen Willen in eine andere Welt versetzt worden. Er schüttelte sich und kehrte zu seinem Aufnahmegerät zurück.
»Was haben Sie getan, nachdem Anatoli gestorben war?« hörte er die leise Stimme, zu der er sich während des ganzen Gesprächs gezwungen hatte.
Er habe sich die Gedichte immer wieder vorgesagt, erzählte Boris, er habe das Geschriebene gelesen, schließlich wußte er, daß er der einzige Zeuge für die Gedichte war, und er kannte ihren Wert und ihre Größe. Sein ganzes Leben, seine Fähigkeiten, seine Aufgabe – alles habe dazu gedient, die Gedichte hinauszubringen. Als er eine weitere Gefängnisstrafe bekam und in ein anderes Lager in der Nähe von Moskau gebracht wurde, machte er sich große Sorgen.
Er arbeitete fünf Jahre daran, erzählte Boris, sich dort in dem Lager in der Nähe von Moskau mit einem Wärter anzufreunden, einem Analphabeten. Er brachte ihm Dinge bei, gab ihm Ratschläge, die sein Liebesleben betrafen, und bestach ihn mit allen möglichen Dingen, die er bekam oder die er stahl. »Ein einfacher Kulak«, sagte Boris entschuldigend, mit seinem starken russischen Akzent. »Aber ich hatte keine Wahl. Es dauert Jahre, bis man an solchen Orten einem Menschen näherkommt. Alle sind mißtrauisch. Ich hatte Angst, daß auch ich bald sterben könnte. Ich nahm meine Seele in beide Hände, wie Anatoli immer sagte, und gab dem Kulak die Gedichte. Wissen Sie, in der Sowjetunion gibt es keine Zensur für Post innerhalb des Landes, wenn man nicht gerade ein Häftling ist. Ich gab ihm die Adresse eines Menschen in Moskau, eines Studenten, den ich noch aus den Tagen der Freiheit kannte und von dem mir jemand, der ins Lager kam, erzählt hatte, daß er noch an seiner alten Adresse lebte. Ich versuchte es. Ich hoffte, es würde ihm gelingen, in Moskau alles an einen anderen weiterzugeben, der das Land verlassen konnte.«
»Alle Gedichte auf einmal?« hörte Michael sich fragen. Nein, es waren zehn dicht beschriebene Zettel. Nun war wieder ein Gemurmel auf jiddisch zu hören, auch das Husten des Kranken und die Versuche Löwenthals, das Gespräch an dieser Stelle zu beenden. Michael könne später weitermachen, sagte Löwenthal, Boris brauche nun Ruhe. »Vielleicht kann er das Wichtigste jetzt trotzdem sagen?«
Michael hörte den verlegenen Ton in seiner Stimme, dann die ungeduldige Stimme Löwenthals. Er selbst, Löwenthal, habe die Gedichte von einem jüdischen Studenten in Moskau bekommen, im Jahre 1956, als er zum ersten Mal wegen des Festivals der Jugend in Moskau war. Von Moskau aus sei er nach Wien geflogen, und dort, sagte er mit blitzenden Augen, habe er diesen begabten jungen Mann getroffen, der später zu einem der bedeutendsten Dichter Israels wurde. Er habe ihm die Gedichte gezeigt, als sie sich auf einer Tagung für Bürgerrechte trafen – beide waren sie damals als Studentenvertreter bei einer Tagung gegen die kommunistische Unterdrückung. Er erinnere sich nicht mehr an die Tagung, da er ja direkt von Moskau dort hingekommen sei und die Eindrücke aus der Sowjetunion alles überlagert hätten. Scha'ul Tirosch, sagte Löwenthal stolz, sei der Mann gewesen, dem er die Gedichte übergeben hätte. Sie hätten in einem Café gesessen – er erinnerte sich sogar noch an den Geschmack des Strudels, jedoch nicht mehr an den Namen des Cafés –, und Tirosch habe sich nach seinen Eindrücken des Moskauer Festivals erkundigt. Schon damals habe er die Neigung gehabt, sich auf alle möglichen Risiken einzulassen, erklärte Löwenthal, deshalb habe er Tirosch die Gedichte gezeigt. Tirosch sei sehr erregt gewesen und habe sofort vorgeschlagen, die Gedichte mit nach Israel zu nehmen. Er erzählte, er arbeite an der Fakultät für Literatur an der hebräischen Universität und habe Beziehungen zu literarischen Kreisen. Er habe die kleinen Zettel mit so viel Liebe gehalten, daß es ihm, Löwenthal, klargewesen sei, daß sie bei ihm sicher waren. Tirosch habe ihm einige Zeilen übersetzt, und sogar er, Löwenthal, der nichts von Lyrik verstehe, sei beeindruckt gewesen von dem Reichtum der Gedichte. Er habe gewußt, daß er sich auf ihn verlassen konnte, wiederholte Löwenthal, und tatsächlich habe Tirosch die
Weitere Kostenlose Bücher