Am Anfang war das Wort
Entspannung, und 1956 habe das erste Festival der Jugend stattgefunden, und er war zum ersten Mal in Moskau. Für Amerikaner war das damals nicht die beste Zeit für einen Moskauaufenthalt, aber trotzdem ... Er lachte. Es war ein Festival für Frieden und Brüderlichkeit. Wieder lachte Löwenthal, ein hohes, nervöses Lachen, das wohl ironisch klingen sollte, und Studenten aus der ganzen Welt seien dort gewesen. Im Gorkipark sei ein russischer Jude auf ihn zugekommen.
Man müsse verstehen, sagte Löwenthal, daß er damals noch völlig grün war, er habe sich nicht nur auf dumme Art in Gefahr gebracht, sondern habe auch große Angst gehabt. Man mußte sich vor Fallen hüten, doch im gleichen Maße auch davor, reaktionäre Gruppen zu unterstützen. Er sei nicht darauf aus gewesen, die Sowjetunion zu zerstören, sondern habe sich nur für den Aspekt der Bürgerrechte interessiert, vor allem hinsichtlich der Juden. Seine Eltern waren von Rußland nach Amerika ausgewandert, er hatte dort noch Verwandte. Der Jude, der ihn im Gorkipark angesprochen hatte, wußte, daß er Jude war, und kannte seine Familie. Von ihm hatte er gehört, daß Boris für die Lyrik Anatoli Ferbers verantwortlich war, daß Ferber schon gestorben sei, aber Boris noch lebe. Der Mann, der Löwenthals Vater kannte, arbeitete bei einem Verlag, demselben Verlag, der später Ein Tag im Leben des Iwan Denis sowitsch herausbrachte. Im Gorkipark hatte er ihn nur kurz angesprochen und gesagt, er möge doch morgen in den Skolnikipark kommen. Um fünf. Löwenthal schwieg, als sehe er das Bild wieder vor sich. Am nächsten Morgen hatte er ein Paket russischer Zeitungen bekommen, zwischen denen ein Umschlag steckte. In diesem Briefumschlag befanden sich viele Gedichte, mit winziger Schrift geschrieben. Er erinnere sich sogar an die Stimme des russischen Juden, an seine schnelle, angespannte Art zu sprechen, er erinnere sich auch an das blasse Gesicht und den gehetzten Blick, an das stotternde Englisch. So habe er zum ersten Mal die Namen Ferber und Singer gehört. Wenn er darüber nachdenke, so sei dies der Punkt gewesen, an dem sich sein Leben geändert und sein Einsatz für die russischen Juden begonnen hatte. Er begann, sich um das Schicksal Boris Singers zu kümmern und zu versuchen, ihn freizubekommen. Doch Boris sei von einem Gefängnis ins andere gewandert, bis es Löwenthal schließlich gelang, seine Freilassung zu erreichen. »Nach über dreißig Jahren«, sagte er und seufzte, doch seine Augen leuchteten. 1985 sei es sehr schwer gewesen, jemanden herauszubekommen, und ausgerechnet da habe er es geschafft, in letzter Minute, vermutlich habe auch der körperliche Zustand Singers seine Ausreisegenehmigung beeinflußt.
Michael erinnerte sich an den mißtrauischen Blick in den Augen Löwenthals, als er ihm die Frage stellte, warum man die Gedichte damals nicht jemandem von der israelischen Botschaft übergeben habe, die es zu dieser Zeit noch gab.
»Nun«, sagte Löwenthal in einem Ton, als gehe es um etwas ganz Selbstverständliches, »sie sind doch die ganze Zeit beobachtet worden, das war zu gefährlich. Und von Moskau bin ich nach Wien geflogen.«
Löwenthal senkte die Augen. »Dort traf ich Tirosch.« Es sei ihm damals nicht eingefallen, sagte er zornig, daß jemand wie Tirosch ... »Wie hätte ich es wissen können?« klagte er. »Ich war auch so jung, und er hat so europäisch ausgesehen, so sensibel und so glaubwürdig. Und wie ich mich gefreut habe, als das Buch herauskam! Wie hätte ich wissen sollen, daß es nicht das richtige Buch ist?«
Michael tröstete ihn nicht.
Er würde die Aussage ins Englische übersetzen und Boris veranlassen, die ganze Geschichte zu unterschreiben, sagte Löwenthal, bevor sie sich verabschiedeten. Falls Boris nach der Aufregung am Leben bleibe. Er hoffe, daß Michael Boris eine Aufdeckung all der schmerzlichen Erinnerungen ersparen könne, doch als Mann des Gesetzes wisse er – er lächelte –, daß er bei der Aufklärung mithelfen müsse. Schon weil er sich schuldig fühle, verantwortlich, weiß der Himmel was – der junge Tirosch habe so vertrauenswürdig ausgesehen, so ernsthaft, so wunderbar, und er war damals ein Student, woher hätte er es wissen können. Dann fragte er mißtrauisch: »Von wem sind eigentlich die Gedichte in dem Band, der Ferbers Namen trägt?«
Michael zuckte mit den Schultern und sagte langsam, in seinem vorsichtigen Englisch, er könne in diesem Fall nicht besser raten, als Löwenthal
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