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Am Anfang war das Wort

Am Anfang war das Wort

Titel: Am Anfang war das Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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Ferbers Gedichten geben soll. Kein Wort über Mord oder über Gerichtsverfahren«, hatte Löwenthal gesagt, als er endlich seine Anweisungen beendet hatte und Michael in das Krankenzimmer geführt hatte.
    Der Körper in dem großen Bett war ein Wrack, wie Löwenthal gesagt hatte. Aber die Augen! Wie die Augen der Propheten, die ich in meiner Phantasie gesehen habe, als ich ein Kind war, dachte Michael, als er in die tiefen, braunen Augen schaute, voller Erregung und Wissen. Löwenthal klopfte die Kissen auf und schob sie dem Mann, der sich aufsetzte, hinter den Rücken. Er hatte eine weiße Mähne über einem schmalen, krankhaft rosafarbenen Gesicht, und ein unschuldiges, lebendiges Lächeln.
    Nun kam die Stimme des Mannes vom Band, und wieder fühlte Michael, wie bereits im Krankenhaus, daß er auch auf der Rückreise nicht in New York bleiben, sondern sofort nach Israel zurückfahren würde.
    »Anatoli«, sagte Singer mit einer Stimme voller Sehnsucht und Verlangen, und begann, einige Zeilen aus Paarweises Gebet auf dem schwarzen Platz zu zitieren, nur daß er vom »roten Platz« sprach, und Michael hatte plötzlich das Gefühl, genau zu wissen, was mit Ido Duda'i in jener Nacht passiert war. Es war erschütternd, sich vorzustellen, daß Tirosch die Worte geändert hatte, die die Quelle des Gedichts hätten verraten können. Boris Singer erzählte. Manchmal sprach er Jiddisch, und dann übersetzte Löwenthal das Gesagte, ohne daß Michael ihn darum bitten mußte, aber im allgemeinen sprach er ein sauberes Hebräisch.
    Mit leiser Stimme, die sich nun so fremd anhörte, so künstlich, stellte Michael die erste Frage nach der hebräischen Sprache. Anatoli, erklärte Boris, habe ein ausgezeichnetes Hebräisch gesprochen, Anatoli habe es ihm beigebracht. Ganze Tage habe er ihn unterrichtet, und im Lager habe er, Boris, die Gedichte auswendig lernen müssen, damit er sie, falls, Gott behüte, etwas passiere, falls Anatoli nicht mehr wäre, bewahren könne. Die anderen dort im Gefängnis hätten kein Wort Hebräisch gekonnt, sie hätten kein Interesse an Gedichten gehabt. Das Hotelzimmer füllte sich mit dem naiven, klingenden Gelächter, das so gar nicht zu der Erscheinung paßte, an die sich Michael erinnerte, an das Gesicht mit den tief in den Höhlen liegenden Augen. Für einen Moment fragte sich Michael, ob der Mann bei klarem Verstand sei. »Wie ist das gegangen?« hatte Michael gefragt, »Anatoli hat die Gedichte aufgeschrieben? Oder hat er sie nur auswendig gewußt?«
    »Beides«, antwortete Boris. »Er hat sie auf Zeitungsränder geschrieben. Na ja, es lohnt sich nicht zu erzählen, wie man im Gefängnis schreibt, es gibt Wege. Alle möglichen Wege und Systeme.«
    Das Aufnahmegerät schwieg für einige Sekunden, dann fuhr Boris leise und weniger begeistert fort zu sprechen. Es gab Lager, erzählte er, in denen es möglich war, Papier zu besorgen, man mußte nur wissen, wo man es dann verstekken konnte. In Perm war ein junger Mann, der Puschkin auswendig gelernt hatte und dessen Werke Tag und Nacht aufschrieb. Aber eigentlich konnte man sich sowieso nicht auf Geschriebenes verlassen, man mußte es auswendig lernen.
    »Wo hat man die Zettel versteckt?« hörte Michael seine eigene Stimme, fragend und mit der Aussprache der im Land Geborenen, die sich so seltsam anhörte gegen das amerikanisch gefärbte Jiddisch Löwenthals und das russisch gefärbte Hebräisch Boris Singers.
    »Es gibt Orte«, hatte Singer wiederholt und ihn ängstlich angeschaut.
    Aber Michael blieb auf freundliche Weise beharrlich. Er rückte seinen Stuhl näher zu dem Bett des Kranken und wiederholte die Lüge, die sie abgesprochen hatten. Das Institut für jüdische Zeitgeschichte wolle alles dokumentieren, sie wollten auch ein Bild von Boris. Und langsam, als höre er nicht auf, sich zu fürchten, erzählte Boris seine Geschichte.
    Es gab alle möglichen Plätze, wo man Geschriebenes verstecken konnte. Im hohlen Eisenfuß eines Bettes, dort wurde normalerweise nicht gesucht. Am Arbeitsplatz, in hohlen Bäumen, auch dort hatten sie ihre Sachen versteckt. In Rissen in der Wand der Holzbaracke. Aber das war nicht wichtig. Hier wurde die Stimme lauter. Er, Boris, wußte ohnehin alle Gedichte auswendig. Er war Anatolis Sekretär. Wieder war das Lachen zu hören. Und dann ein Husten. Auf dem Weg zur Arbeit oder nachts, nach der Arbeit, besonders wenn es unmöglich war, warm zu werden, und das war es fast immer, fing Anatoli an, die Zeilen zu

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