Schneetreiben
1
Der Regen prasselte wütend aufs Autodach. Hauptkommissar
Bernhard Hambrock blieb im Wagen sitzen. Er zögerte. Das Kopfsteinpflaster vor
dem liebevoll sanierten Bauernhaus hatte sich in einen aufgepeitschten See
verwandelt. Die Dachrinne an den Stallungen lief über, Sturzbäche ergossen sich
über Rosenstöcke und Kräuterbeete. Der Weg vom Auto zum Haus würde ausreichen,
ihn bis auf die Haut nass werden zu lassen. Er konnte nichts dagegen
unternehmen.
Dabei hätte er gar nicht selbst herkommen müssen. Er hätte
irgendeinen Mitarbeiter schicken können, wie es für solch einen Einsatz
angemessen gewesen wäre. Doch das wollte er nicht. Er hatte seine eigenen, ganz
privaten Gründe, hier zu sein, keiner brauchte etwas davon zu wissen. »Ich bin
sowieso in der Gegend unterwegs«, hatte er den anderen gesagt. »Wozu einen
weiteren Kollegen in den Regen schicken, wenn der Chef ohnehin schon nass ist?«
Schicksalsergeben blickte er zur hell erleuchteten Haustür und
sprang mit einem Satz aus dem Wagen. Die schweren Tropfen peitschten von allen
Seiten auf ihn ein. Kalte Nässe durchdrang seine Kleidung. Er hastete zum Haus,
drückte die Klingel und presste sich gegen das Türblatt. Die Nelken aus einem
Gewürzkranz stachen ihm ins Gesicht, der Wind trieb feuchte Kälte unter seinen
Mantel.
Er musste nicht lange warten, bis ihm geöffnet wurde. Eine ältere
Frau in Strickjacke riss die Tür auf und ließ ihn ins trockene, warme Innere.
»Sie sind Herr Hambrock, nehme ich an? Ich habe Sie schon erwartet.«
Die Frau hatte ein freundliches Gesicht und gütige Augen und wirkte
ein bisschen wie eine Oma aus einem Kinderbuch. Er hätte nicht sagen können,
welches Bild er sich von Dorothea Probst gemacht hatte, doch mit der
Erscheinung, die sich ihm nun bot, hatte er keinesfalls gerechnet.
Sie wandte sich ihm zu und lächelte. »Kommen Sie herein. Ich habe
das Herdfeuer angefacht.« Dann nahm sie seinen durchnässten Mantel und hängte
ihn über einen Bügel. »Bestimmt möchten Sie einen Tee, um sich aufzuwärmen?«
»Danke, das wäre sehr nett.« Er strich sich über die feuchten
Hosenbeine. »Es ist wirklich ein grässliches Wetter.«
»Das ist wohl das Schicksal eines Polizisten. Das Wetter nimmt keine
Rücksicht auf Ihre Arbeit.«
Sie führte ihn in ein gemütliches, mit Bauernmöbeln eingerichtetes
Wohnzimmer. Vor dem Kamin standen zwei wuchtige Sessel aus Eichenholz, und auf
einem Beistelltisch dampfte in einer Porzellankanne der Gewürztee.
»Setzen Sie sich doch«, sagte Dorothea Probst und wartete, bis er
Platz genommen hatte.
Dann goss sie Tee in Porzellantassen und stellte einen Teller mit
Zimtsternen dazu. Hambrock betrachtete schweigend die Kekse. Noch wusste er
nicht so recht, wie er beginnen sollte.
»Haben Sie in der Zwischenzeit etwas von Ihrem Pflegesohn gehört?«,
fragte er schließlich. »Hat er sich bei Ihnen gemeldet?«
Sie setzte sich. »Er ist nicht mein Pflegesohn. Wir haben ihn
adoptiert.«
»Entschuldigen Sie. Ich meine natürlich: Haben Sie etwas von Ihrem
Sohn gehört?«
»Nein, seitdem mich die Polizistin aus Brandenburg telefonisch über
den Ausbruch meines Sohnes informiert hat, habe ich nichts Neues mehr erfahren.
Martin hat sich nicht bei mir gemeldet. Es tut mir leid, dass ich Ihnen nichts
anderes sagen kann.« Sie zog ihre Strickjacke um den Körper, als friere sie.
»Er hat mich nicht um Hilfe gebeten, wenn das Ihre Frage war.«
Martin Probst war am Vormittag aus der Justizvollzugsanstalt
Brandenburg an der Havel ausgebrochen. Umgehend hatte man eine Großfahndung
eingeleitet und auch die Münsteraner Dienststelle mit einbezogen. Probsts
Adoptivmutter wohnte in ihrem Zuständigkeitsgebiet, und die ermittelnden
Beamten wussten natürlich von dem guten Verhältnis zwischen Mutter und Sohn.
Zwar hielt Hambrock seinen Besuch für reine Routine, denn er konnte sich nicht
vorstellen, dass Martin Probst so leichtsinnig war, ausgerechnet hier in
Birkenkotten aufzutauchen. Dennoch wollte er die Gelegenheit nutzen, die Frau
kennenzulernen, die Martin aufgenommen und adoptiert hatte.
»Es ist gut möglich, dass Ihr Sohn gar nicht hierher kommt«, sagte
er. »Schließlich kann er sich denken, dass die Polizei zuallererst bei Ihnen
sucht. Es wäre viel zu riskant für ihn.«
»Vielleicht haben Sie recht.« Sie wurde nachdenklich. »Ich wusste
überhaupt nicht, dass er einen Ausbruch geplant hat. Er hat mir nichts davon
erzählt. Als mich die Polizei vor ein paar Stunden anrief,
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