Am Anfang war das Wort
»Was war der letzte Satz?« fragte er verwirrt.
»Ich habe ihn nicht ganz verstanden«, beharrte die Frau mit den Sommersprossen.
Tuwja Schaj wiederholte mehrmals die Worte »Kastrationsangst«, »Metonymie« und den Satz, den er davor gesagt hatte. Sie nickte, schrieb eifrig und sagte: »Ich habe verstanden«, auf eine Art, die Michael deutlich erkennen ließ, daß sie nichts verstanden hatte, sondern nur aufgab.
Eine der Frauen mit den Kopftüchern flüsterte ihrer Nachbarin etwas zu, diese lächelte und gab eine Antwort, die die andere Frau errötend schweigen ließ. Tuwja Schaj nahm seinen Vortrag wieder auf.
Michael folgte seinen Ausführungen mit großer Konzentration, als er »die veränderte Version von Absaloms Geschichte in dem Gedicht« beschrieb. Er betonte, daß Absaloms Haare als rot charakterisiert werden, was die Assoziation mit David aufkommen ließ, der laut Bibel »rothaarig und mit schönen Augen«* {} war, und am Schluß sagte er: »Alle Gefühle und Eigenschaften, die sich in dem Gedicht auf die Haare beziehen, sind Hinzufügungen, wir haben sie im Urtext nicht gefunden.« Dann sagte er noch: »Aufgrund der Verbindung zwischen den Assoziationen der Allusion und der Verbindung von Ahithophel mit Absalom, eine Verbindung, die durch das Abwenden der Augen beschrieben ist, schafft das Gedicht eine ausdrückliche Erotik zwischen Absalom und Ahithophel.«
»Schon wieder Erotik«, protestierte die Frau mit dem Kopftuch.
Schaj ignorierte ihren Einwurf und fuhr fort: »Ein anderes Element der syntaktischen Struktur ist die zusätzliche Bezeichnung, die Absalom bekommt – ›der Anlaß für Davids Liebe‹ –, sie ist der Grund dafür, daß Davids Liebe identisch wird mit den Haaren, das heißt mit Absaloms Schönheit.« Und dann: »Das ist die ›glänzende Rechtfertigung‹ für alles. Das Gleiten des Satzes von einer Verszeile zur nächsten verwandelt den Aufstand in ›alles‹, sowohl den Aufstand selbst als auch später den Tod.«
Tuwja Schaj verschränkte die Arme hinter dem Rücken und drehte sich zum Fenster. Seine Worte gruben sich in Michaels Bewußtsein, und ihr Echo sollte ihn den ganzen Tag nicht mehr loslassen.
Was hast du heute gelernt, fragte er sich später, nachdem er sich das Band wieder und wieder angehört hatte, besonders die letzten Sätze: »Das Gedicht bringt eine verborgene Schicht an die Oberfläche, die sich mit dem ungeheuren Einfluß der Schönheit auf den Menschen beschäftigt. Die Betonung, sowohl im Urtext als auch im Gedicht, liegt auf der Schönheit Absaloms, sozusagen als Erklärung für schreckliche Verbrechen – die Drohung des Vatermordes, die Blutschande –, als rechtfertige sie das unverständliche Verhalten Davids. Die Erklärung steckt in der besonderen Macht der Schönheit, die aus sich selbst beeindruckt, ohne Konflikt, ohne Zögern, ohne Fragen. Der gewöhnliche Mensch ist begrenzt in seiner Fähigkeit, sich der konkreten Schönheit gegenüber zu verhalten, ihrer Physis gegenüber. Doch zugleich hat er eine Sehnsucht nach der abstrakten Schönheit, ein Verlangen nach ihr. Dieses Verlangen führt auch zum Hingezogensein zu den Phänomenen dieser Schönheit und zu übertriebener Ehrfurcht vor ihnen. Der Mensch sehnt sich nach einer Identifikation mit der Schönheit, auch weil diese Identifikation die Illusion schafft, daß die Schönheit eines Objekts auch jenen adelt, der sich mit ihm identifiziert. Der Mensch, der bei einer solchen Schönheit Schutz findet und sich mit ihr identifiziert, fühlt, daß etwas von ihr auf ihn abfärbt.«
Tuwja Schaj setzte sich, senkte den Kopf und sprach mit monotoner Stimme weiter: »Mit anderen Worten: Der Sprecher betrachtet Absaloms Schönheit als schreckliche Kraft, stärker als alles – als die Bösen und die Kalten, wie Ahithophel, stärker als der Vater, der König –, die alles andere nach sich zieht. Das ist eine übermenschliche Schönheit«, sagte er verzweifelt zu den gesenkten Köpfen der eifrig schreibenden Studenten, dann ließ er den Kopf sinken, »und deshalb ist es unmöglich, ihr standzuhalten. Es ist eine Schönheit, über die moralische Werte keine Macht mehr haben. Sie führt zum Ausbruch archaischer Kräfte. Der Aufstand gegen den König-Vater wird im Gedicht als unvermeidliches Ergebnis der Tatsache dargestellt, daß Absalom der Schönste von allen war. Die Sublimierung der Tatsache, daß er der Schönste von allen war, bestand darin, daß er sich außerhalb menschlicher Werte stellte.
Weitere Kostenlose Bücher