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Am Anfang war das Wort

Am Anfang war das Wort

Titel: Am Anfang war das Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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Mann, der im Lauf der Jahre einen Prozeß durchgemacht hat. Er identifizierte allmählich die göttliche Kraft in sich mit seiner eigenen Person und vergaß ganz deren göttlichen Ursprung.« Wieder schaute sich Schaj um, und Michael bemerkte, wie die Hände innehielten, wie die Studenten einen Moment aufhörten zu schreiben, er sah das Licht, das plötzlich in den hellen Augen des jungen Studenten aufleuchtete.
    »Für Simson«, sagte Tuwja Schaj leise, »bedeutete der Verlust der Haare den Verlust seiner Beziehung zu Gott, der Bruch seines Geweihtseins – das ist es, was ihm der Verlust der Haare gebracht hat, und deshalb, meine Herrschaften, deshalb auch den Verlust seiner übernatürlichen, übermenschlichen Kraft.«
    Tuwja Schaj schaute sich um, und in seinem Blick lag etwas, was man nur als Stolz bezeichnen konnte. Nicht der Stolz eines Siegers, sondern der Stolz eines Menschen, der ein schwieriges Problem gelöst hat und es nun strahlend mitteilt.
    »Ich sehe keinen Zusammenhang«, kam die protestierende Stimme einer jungen Frau, von der Michael nur den breiten Rücken sehen konnte. Der Rücken bewegte sich ein wenig, und das Leuchten auf Schajs Gesicht erlosch für einen Moment.
    »Geduld«, sagte er, ohne zu lächeln, »wir gehen nicht hier raus, bevor Sie den Zusammenhang erkannt haben. Wir entziffern hier etwas Vielschichtiges, wir suchen den dritten Text, wie wir uns erinnern. Das braucht Zeit.«
    »Können wir schon erfahren, von wem der Text ist?« fragte die junge Frau mit dem grünen Kopftuch, und Tuwjas Gesicht wurde wieder lebhaft, als er fröhlich antwortete: »Noch nicht, erst zum Schluß, um Vorurteile zu vermeiden, aber ich bin sicher, daß ein Teil von Ihnen die Lösung bereits weiß.«
    Dann wechselte er über zu Absalom. Der ältere Mann neben Michael holte Unterlagen aus einer Tasche, die er auf dem Boden stehen hatte, zwischen seinen Beinen, und blätterte fieberhaft darin herum. Dann las er mit bedächtiger Stimme eine Zusammenfassung von Absaloms Rebellion vor. Erinnerungen stiegen in Michael auf, das Echo von Worten, von denen er einst geglaubt hatte, sie verstanden zu haben, von denen er aber erst jetzt wußte, daß er sie nie verstanden hatte. Mit wachsender Erregung hörte er nun Einzelheiten über den »Ratschlag Ahithophels« und verstand auf einmal die Bedeutung der Worte: »Da machten sie Absalom ein Zelt auf dem Dach, und Absalom ging zu den Nebenfrauen seines Vaters vor den Augen von ganz Israel.« Heimlich warf er einen Blick auf das aufgeschlagene Heft links von ihm und sah die Zeilen: »Ahithophel der Kalte und Böses Sinnende«, und das Gedicht wurde lebendig, bekam eine Bedeutung, die er vorher nicht gesehen hatte. Etwas Schlimmes und Schreckliches, das er unbedingt verstehen mußte.
    Auch die Stimme Tuwja Schajs schien ihm voll böser Absicht, als er sagte: »Sie haben jetzt schon fast alle Tatsachen, Sie müssen nur noch das Bild klar erkennen.« Ernst betrachtete er seine Studenten. Sie warteten, die Stifte in der Hand. Wieder leuchteten die hellen Augen des jungen Studenten auf, den Schaj von Zeit zu Zeit anschaute, wenn er die Augen nicht auf irgendeinen Punkt an der Wand oder auf den Text heftete.
    »Absalom«, sagte Tuwja Schaj, »Absalom tötete Amnon, weil er Thamar vergewaltigt hatte. Die Tötung war lange vorbereitet, sie war nicht die Tat eines Hitzkopfes. Zwei Jahre hatte er sie geplant, und erst als er schließlich seine Schwester Thamar rächte, erst dann stellte sich heraus, wieviel Zorn in ihm war. Aber ist es nicht klar, daß er das tat, was eigentlich sein Vater, König David, hätte tun müssen?« Er betrachtete das Gedicht und flüsterte: »Drei Jahre! Drei Jahre sitzt der geliebte Sohn Davids in Geschur, und dann ist es Joab, der seine Rückkehr nach Jerusalem veranlaßt, Joab, nicht David! Und es gibt zwischen ihnen, zwischen David und Absalom, eine äußerst kühle Versöhnung, wie wir aus dem immer wiederkehrenden Wort ›der König‹ bei der Beschreibung ihrer Versöhnung erfahren, einer so kühlen Versöhnung.«
    Michael griff nach dem kleinen Aufnahmegerät in seiner Hemdtasche. Er fragte sich, was Elfandari wohl davon halten würde, der im Auto saß und die Stimmen aufnahm. Dann dachte er an die monotone Stimme Tuwja Schajs, die er vom Verhör in seinem Zimmer kannte. Derselbe Mensch, plötzlich voller Leben, voller Gefühl. Und worüber er sprach! Aber, erinnerte er sich selbst, diese Vorlesung war schon seit langem vorbereitet, lange bevor

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