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Am Anfang war das Wort

Am Anfang war das Wort

Titel: Am Anfang war das Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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sagte wütend und aggressiv: »Ich weiß nicht«, und griff wieder nach ihrem Stift.
    »Es geht um den Sprecher, Tamar, wir sind dabei, ihm näherzukommen«, sagte Schaj, als verrate er ein großes Geheimnis. Michael schaute ihn an, allmählich begann er zu begreifen. »Der Sprecher in dem Gedicht steht den biblischen Geschichten gegenüber und verhärtet sich gegen sie. Letztlich ist vom Ich des Sprechers die Rede, er tritt in Erscheinung durch die Wahl der biblischen Details und deren Stellung zu der Aufteilung ›verstehen – nicht verstehen. Durch die Veränderung der Allusion – ob der Sprecher sie versteht oder nicht – erfahren wir etwas über ihn, über seinen Charakter. Erinnern Sie sich an einen Ausspruch Kellers?« Der junge Mann mit den hellen Augen hob den Kopf, Tuwja Schaj schaute ihn an, während er fortfuhr: »Er hat gesagt: ›Wenn eine bestimmte Absicht im Auftrag des Sprechers erklärt wird, müssen wir bei der Interpretation einen schwierigen Punkt überwinden.‹ «
    Im Zimmer herrschte konzentriertes Schweigen. Tuwja Schaj deutete auf den Gedichtband, atmete tief durch und sagte dann: »Das Gedicht stellt durch seine Auswahl eine Reihe von Einzelheiten dar, die sich offenbar – ich betonte: offenbar – zwangsläufig auseinander ergeben. Mit anderen Worten: Eine Prüfung der Veränderung der Allusion auf ihrem Weg von der Bibel in das Gedicht und ihre Position im architektonischen Aufbau von Verneinung und Bejahung ermöglicht es, zu verstehen, was der Sprecher über sich selbst sagt.«
    Und was sagst du da über dich selbst? fragte sich Michael, und wieder traf sein Blick die Augen Tuwja Schajs, der ungerührt zu einem Vortrag ausholte, den man, das war klar zu erkennen, nicht unterbrechen konnte.
    Ganz offensichtlich war die ganze Vorlesung auf diesen Vortrag ausgerichtet. »Erst jetzt, nach diesem ganzen langen Weg, nach der Prüfung jeder Allusion und ihrer möglichen Auslegungen, nachdem wir die Verwendung von Syntax und Aufbau in dem Gedicht und die Art, wie die Details aus den biblischen Geschichten ausgewählt wurden, analysiert haben – erst jetzt können wir die Veränderung in der Position der Allusion innerhalb des Gedichts entziffern. Das einzige Element, das von Simsons Geschichte in das Gedicht eingeführt wurde, sind die Worte ›die große Kraft, die in ihnen verborgen ist‹, gefolgt von ›das Geheimnis des Gottgeweihten‹ ...« Wieder erlahmte Michaels Aufmerksamkeit, er hörte Formulierungen wie »Signifikat« und »Signifikant« und fragte sich, worauf das alles hinauslaufen sollte.
    »Diese ständige Angst vor dem Verlust der Haare«, sagte Tuwja Schaj, »diese Angst wird in der Bibel nicht verbalisiert, weder offen noch versteckt. Die Darstellung der Angst in dem Gedicht ist ein Ergebnis der Weltsicht des Sprechers, der glaubt, daß er, wenn seine gesamte Kraft in seinen Haaren konzentriert wäre, Angst hätte, sie zu verlieren. In dem Gedicht wird die Schwäche gegenüber weiblicher Verführung, die Simson kennzeichnete, durch eine ganz reale Angst vor Frauen ersetzt, eine Angst, die im Kontrast zu der Gefährdung steht, der der biblische Simson ausgesetzt ist. Das Gedicht erklärt die Schwäche Simsons in seinem Verhältnis zu Frauen nicht als Unfähigkeit, ihrer Verführung zu widerstehen, sondern als Kastrationsangst. Simson wird als einer dargestellt, der um seine Männlichkeit fürchtet!«
    Wieder strahlten Tuwja Schajs Augen sieghaft. Sein Blick glich sehr dem Blick Balilatis, wenn er irgendein Detail herausgefunden hatte und vor Freude über seine Findigkeit strahlte. Michael wäre vorher nie darauf gekommen, daß auch Tuwja Schaj ein solches Gefühl empfinden könnte.
    »Das Thema der Kastration«, fuhr Schaj fort, »zeigt sich beim zweiten Lesen ganz deutlich. Warum ist es verboten, über die Haare zu sprechen? Vielleicht, weil es eigentlich um das männliche Glied geht? Seine ständige Angst, wenn Delila seine Haare streichelnd berührt, charakterisiert Simson als jemanden, der die ganze Zeit damit beschäftigt ist, seine Haare zu bewachen. Das heißt, der Dichter begreift Simons Kraft als primitive, kindliche Kraft, trotz des mystischen Elements, das in ihr verborgen ist.« Sogar die junge Frau mit den Sommersprossen schaute Tuwja Schaj konzentriert an, bemüht zu verstehen.
    »Entschuldigung«, sagte die Frau mit dem Haarnetz, »können Sie bitte den letzten Satz wiederholen?«
    Tuwja Schaj sah aus, als würde er aus einem hypnotischen Schlaf geweckt.

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