Am Anfang war das Wort
hier jemand ermordet wurde. Trotzdem! Man muß ihn nur anschauen, könnte er nicht in einem Ausbruch von Wut ein Gesicht zerschmettern? Ist das der Mann ohne Eigenschaften? Ist er sich meiner Anwesenheit wirklich nicht bewußt? Kann es sein, daß ihm nicht klar ist, welche Seite seiner Persönlichkeit er gerade offenlegt, was für ein Potential?
Und dann traf der Blick aus Tuwja Schajs hellen, wäßrigen Augen den Blick Michaels, als könne er seine Gedanken lesen. In seinen Augen lag keine Angst, ein Irrtum war ausgeschlossen. Sie zeigten Freude über die Entschlüsselung, Entzücken wegen der eigenen Fähigkeit, alles in Worte zu fassen.
»Absaloms Ende ist tragisch und ironisch zugleich«, sagte Tuwja Schaj. »Er, der so verliebt war in seine Haare, fand den Tod ausgerechnet durch diese Haare.«
»Dazu gibt es eine Auslegung«, sagte die ältere Frau, die bisher geschwiegen hatte. Sie saß in der Mitte des U, und Michael sah ihr aufgewühltes Gesicht.
»Ja«, sagte Schaj freudig. »Erinnern Sie sich an sie?«
»Unsere Weisen haben gesagt, im Traktat Sota, glaube ich«, sagte die Frau mit einer angenehmen Stimme, »Absalom habe sich mit seinen Haaren gebrüstet, und deshalb sei er an seinen Haaren aufgehängt worden.«
Tuwja Schaj nickte heftig. Man konnte unmöglich übersehen, daß sein Gesicht vor Glück strahlte.
»Jetzt können wir zu dem Gedicht selbst kommen«, sagte er. Und dann sah sich Michael der langen Erörterung eines Begriffes ausgesetzt, den Schaj an die Tafel schrieb. »Zeugma«, mit hebräischen und mit lateinischen Buchstaben. Ausführlich erklärte er, wie Syntax und Aufbau eines Gedichtes seine Bedeutung schaffen.
»Obwohl die syntaktischen Gegebenheiten offenbar die Anwesenheit eines Sprechers in dem Gedicht betonen sollen«, sagte Schaj und rieb sich den Kreidestaub von den Händen, »hat man das Gefühl, als verberge sich das Subjekt des Verses ausgerechnet in dem Teil des Satzes, der eigentlich, von der Syntax her gesehen, das Objekt wäre: die Haare Simsons, das Leben Simsons. Mit anderen Worten: Die objekthaften Teile des Gedichts werden zu den subjekthaften, das heißt zum Ersatz des Substantivs.«
Michael verlor den Faden. Er verstand nicht genau, wovon die Rede war. Er war verwirrt, sein Interesse an dem Gedicht ließ nach. Die anderen waren vollständig in eine Welt eingetaucht, von der er geglaubt hatte, er verstehe sie, und plötzlich sprachen sie eine andere Sprache.
Tuwja Schaj dozierte voller Begeisterung, und die Studenten schrieben eifrig mit. Eine von ihnen hob den Kopf und verzog das Gesicht, zögerte einen Moment und meldete sich dann. »Nur eine Sekunde«, sagte Schaj, »ich bin gleich fertig.« Und fast im Schreibtempo sagte er: »Die Extraposition, das heißt, die Stellung des Objekts an den Anfang, erschüttert das Gleichgewicht des Satzes. Von Beginn an (das wurde besonders betont) sind die Haare Simsons das Objekt der Beziehung, der Artikel zeigt klar, daß die Haare die Funktion des Objekts haben.* {} Nur die Phrase ›verstand ich noch nie‹, der alles andere untergeordnet ist, nur diese Phrase erlaubt dem Satz nicht, die Ausschöpfung seiner ganzen Energie zu erreichen. Auch im zweiten Vers ist das so: Das Objekt – die Haare Absaloms – und alles, was damit verbunden ist, scheint sich zum Subjekt zu verwandeln.« Er wandte sich an die Studentin und forderte sie mit einer Handbewegung zum Sprechen auf.
Sie saß Michael gegenüber, auf der anderen Seite des Raumes, und hatte das anziehende Gesicht einer jungen Frau von Anfang Zwanzig, mit einer Nase voller Sommersprossen, und ihre dunklen, funkelnden Augen wurden sichtbar, als sie ihren Pony zurückstrich. Heftig sagte sie: »Ich weiß nicht, wie es den anderen geht, aber mir macht das hier einfach das Gedicht kaputt, dieses ganze Gerede über die Syntax.«
Tuwja Schaj lächelte nicht. Mit todernstem Gesicht sagte er: »Erstens sind wir noch nicht fertig, zweitens, Tamar« – es war das erste Mal, das er jemanden mit Namen ansprach –, »haben wir das ganze Jahr darüber gesprochen, und drittens kann ich Ihnen versprechen, daß nichts Ihnen dieses Gedicht kaputtmachen kann, wenn es Qualität hat, auch keine grammatikalische Analyse. Aber vielleicht sagen Sie uns Ihre Meinung, wenn wir fertig sind?«
Jemand im Raum seufzte, ein anderer lächelte gutmütig. Die beiden Frauen mit den Kopftüchern schauten sich verständnisinnig an, dann musterten sie die junge Frau verächtlich. Diese wurde rot und
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