Am Anfang war die Nacht Musik
gewaltsam entführt worden. Und sie habe dieses heftige Nervenfieber bekommen. Fast eine Woche vor sich hingedämmert. Nur tägliche magnetische Behandlungen hätten sie wieder auf die Beine gestellt.
Aber, hatte er leise erwidert, dass sie hier bei ihm stehe, und dass sie weiter zusammen Mozart spielen könnten, das sei doch die Hauptsache.
Sie darf bleiben. Bis sie wieder ganz hergestellt ist. Hergestellt. Wie das klingt. Stammt vom Vater. Der glaubt, sie könne repariert werden wie ein defektes Uhrwerk. Und wenn sie wieder sieht und tickt und Dinge anzeigt und weiß, wie die heißen, und fehlerlos Klavier spielt, dann holt er sie heim. Seine kleine Automatin. Seine kleine Klavieristin. Zurück in den Rüssel . Zu ihren beiden Klavieren. Deren Klang sie erinnert, als wohne er in ihren Ohren. Doch wie es klingt, wenn sie zu ihren Eltern spricht, davon fehlt ihr jede Vorstellung.
Von dem, was hier tatsächlich geschieht mit ihr, hat ihr Vater keine Ahnung. Woher auch. Sie kann es nicht vermitteln. Und dem Vater fehlt nichts. Und der Doktor hat ihn nie berührt. Im Gegenteil. Der Doktor hat ihn aus dem Haus verwiesen. Mit seiner mächtigen Stimme. Und der Vater, der sich sonst nie etwas sagen lässt, hält sich dran.
Und was, bitte schön, droht Kaline, wenn sie nicht bald zum Wecken kommt. Wenn sie Maria einfach so den Tauben überlässt? Nichts. Einer Abwesenden kann man nicht drohen. Man muss auf sie verzichten wie auf die heiße, schäumende Schokolade, die sie mitgebracht hätte.
Maria kleidet sich allein an, steigt die Treppe hinab und setzt sich in den Ledersessel. Wartet wie ein Gespenst am kalten Kamin. Kaline behauptet, der Hund verbelle Gespenster. Der Hund aber kommt ihr gähnend entgegen. Streckt sich ausgiebig. Legt seine Schnauze auf ihren Schuh, damit sie sich nicht unbemerkt davonschleichen kann. Während er schläft und leise japsend zuckt im Traum, in dem Gespenster ihn verfolgen. Er fürchtet sie. Wie Kaline sich fürchtet vor Gespenstern. Auch wenn sie selbst sich neuerdings wie eines benimmt. Sich auflöst in Luft. Verschwindet. In den Tiefen des Hauses. Alles in den Wind streut, sich selbst und ihre Pflichten, Aufgaben und Freundschaften.
Und wie, bitte, soll Maria sich Kalines Verschwinden erklären? Die Suche nach Kaline sucht nach einer Erklärung. Und findet Kaline mit ihrem Seidenschal erdrosselt. Des Weiterenerschossen, erstochen, vergiftet. Gevierteilt. Unschuldig, blutüberströmt liegen gelassen. Das ist selbst Maria zu viel. Sie bewegt die Zehen, und der Hund springt jäh auf.
Blödes Vieh, fährt sie ihn erschrocken an. Und er, fest auf allen vieren, schüttelt sich. Empört, fassungslos über die Rücksichtslosigkeit, die sie auf Lager hat. Auch wenn die nur Ausdruck ihrer Ratlosigkeit ist.
Am Abend findet sie Kaline. Doch noch. Und eher zufällig. Und völlig intakt. Wenn auch ein bisschen reglos. Maria betastet ihren leicht gekrümmten Körper. In der Kammer hinterm Wäschezimmer. Auf einem Berg ungewaschenen Bettzeugs.
Was denn los sei, warum sie sich hier verkrieche? Ob sie gegessen habe?
Nein.
Warum sie ihrem Magen das zumute? Zuerst überstopfen, dann wieder fasten.
Keine Reaktion.
Ob sie friere?
Nein. Kaline klingt schwach. Aber aufnahmefähig.
Umso besser. Maria hat eine Menge zu erzählen. Von der Sitzung beim Doktor. Von seinen Händen. Und wie die Stellen, die Berührungen immer heißer werden. Bis sie glühen. Und warme, weiche Bälle durch ihre Adern rollen. Überallhin. In Arme, Beine, Finger, Zehen. Und retour. Man könne kaum glauben, dass man das selbst sei, das Warme, Weiche, mitunter Brennende, sehr Lebendige. Sie werde dem Doktor Bescheid sagen. Er werde Kaline behandeln. Dann werde Kaline wissen, wovon sie rede.
Aber das Beste, sagt sie, das Beste kommt jetzt: Sie habe sich empfunden wie einen Ton aus Riedingers Geige. Der hell und klar durch die Räume vibriere und weiter, durch die Fenster hinaus. Eine Note von Mozart, den sie zusammen mit Riedinger spiele. Die Sonate für Klavier und Violine. Du hast sie im Ohr?
Ob Kaline versucht, den Kopf zu schütteln, oder ob sie zu nicken versucht? Schwer zu sagen. Ihr Hals scheint für beides zu schwach.
Den furchtbar schönen zweiten Satz. Diesen Mozart-Klang, mit den halben Tönen. Dieser Klang, der besingt, wie die Welt ist. Und einen dabei zerreißt.
Schräger als alles, was sie je gehört habe. Schräger als die schrägste Leiter. Und wie der Doktor mal wieder wissen wollte, was sie dachte.
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