Am Anfang war die Nacht Musik
jäh zurück.
Ein Vogel. Ein Rabe, quer über die Schwelle. Parallel zum Haus. Er wird es notieren. Selbe Stelle. Dort, wo ein Fleck wie ein Schatten noch auf den ersten Schwellenfund hinweist.
Diesmal keine Spur von Harmonie. Ein Rabe ist keine symmetrische Angelegenheit. Der Querachse nach. Ein Rabe ist oben und unten. Und Kopf und Schwanz bleiben immer oben und unten. Auch wenn sie im Sterben nach rechts und links gekippt sind. Schwellenfund Nummer zwei stört ihn mehr als Schwellenfund Nummer eins. Der tote Rabe, wenn auch äußerlich unversehrt, weist auf menschliche Gewalt hin. Kein Tier hätte seine Beute so einfach liegen lassen.
Der Rabe ist noch warm. Kann er unter seinem Fuß gestorben sein? Genickbruch? Der vermeintliche Genickbruch schaukelt durch die Luft. Mesmer reißt die Rabenhand hoch. Der Hund schnappt ins Leere. So lebendig wirkt der Rabe. Alsfließe es noch, das Blut, unter den glänzenden Federn. Und Mesmer hört es brutzeln, in der Gerüchteküche Wiens. Und er weiß, er ist es, der dort verbraten wird.
In Paris sind die Leute tolerant, denkt er. Wach und interessiert und tolerant.
7. Mai 1777
Er bleibt. Seinen Patienten zuliebe. Ihren Angehörigen zuliebe. Die ihn immer wieder überraschen. Wie das Ehepaar Paradis. Das sich nicht entscheidet. Die Eltern drucksen herum. So kennt er sie gar nicht. Erst wollen sie Maria nur Guten Tag sagen. Dann zu einer Spazierfahrt mit an die Donau nehmen. Dann von der Kärntner Straße zum Graben flanieren. Es könne also spät werden.
Nichts dagegen. Maria ist nicht seine Tochter. Sie ist seine Patientin. Die ideale Patientin. In den neuen hohen Schuhen trippelt sie wie die Lipizzaner der Kaiserin zur Kutsche. Und wird hineingeschoben. Elegant verpackt und verschnürt. Mit Reiseperücke. Obenauf die Haube.
Den Raben zerlegt er nach allen Regeln der Kunst. So wie er früher Leichen zerlegte. Er studiert die Nervenbahnen. Auf einem Teller wächst ein blutiges, stinkendes Häufchen. Den Teller stellt er vors Fenster. Der Kater, wo immer er ist, wenn das Fenster aufgeht, ist er vor Ort. Wie Mesmer. Immer vor Ort, wenn die Herzen aufgehen, wenn es Tränen regnet im Haus. So wie am Abend. Durch den Türspalt sieht er die beiden Mädchen auf dem Sofa sitzen. Marias Kopf an Kalines Brust.Kaline streicht über Marias beachtlich gewachsene, struppige Mähne. Zu ihren Füßen der Hund, der dem Schluchzen lauschende Hund, der jetzt die gespitzten Ohren zur Tür richtet und leise wedelt. Der Verräter. Der Verräter wird nicht wahrgenommen. So sehr sind die Mädchen mit sich beschäftigt. Und im Gespräch. Über ihn.
Laut Kaline sei er sonderbar. Gestern, spät, als alle schliefen, habe sie ihn durchs Fenster draußen im Hof stehen sehen. Er habe die Arme zum Himmel gestreckt. Als erwarte er dorther die Antwort.
Welche Antwort? Ja hat er denn eine Frage gestellt?
Kaline zuckt mit den Schultern.
Vielleicht sei es ja ein Gebet gewesen.
In der Kirche, die sie besuche, sagt Kaline, bete man mit gefalteten Händen.
Na und, sagt Maria. Man kann ja auch einfach mal so, ohne eine Frage, auf eine Antwort warten. Wie lange er da gestanden habe?
Das wisse sie nicht. Sie sei nur zum Nachttopf. Auf dem Rückweg stand er immer noch da.
Er aber ist es doch, nach dem die Welt fragt, nach allem.
Ja, sagt Kaline, auch … sie werde ihn eventuell darum bitten … müssen.
Marias Schluchzen verstummt.
Halb so wild. Tränenbegleitetes Kichern schüttelt Kaline. So eine blöde Magenverstimmung. Hartnäckig. Nervtötend.
Der Doktor heilt auch das Einfachste mit seinem Fluidum. Mit seiner Musik und den Egeln, sagt Maria, ihr dagegen sei weniger leicht zu helfen. Sie kämpft mit den Tränen.
Die Eltern haben sie wieder dem Dr. Barth vorgeführt. Der führte sie an einer langen Reihe Gegenstände vorbei. Zwei davon ihr völlig unbekannt. Sie wusste kein Wort dafür. Anfassen durfte sie nichts. Bei dreien verwechselte sie die Bezeichnungen. Zum Zwölfender sagte sie Zweifelnder Teufel. Waage zum Wagen. Zur Kiste Kissen. Anschließend habe man das Unglücksstück von ihr verlangt. Die Haydn-Tortur. Von Haydn hat danach keiner geredet. Nur von ihren Patzern. Dr. Barth sagte, sie könne überhaupt nicht sehen. Sei blind. Und Mesmers Erfolg ein abgekartetes Spiel. Sie schnappt nach Luft. Der aufgebrachte Störck habe den Termin bei der Kaiserin sofort abgesagt. Es steht mehr auf dem Spiel als bloß der Ruf der Familie. Natürlich. Da helfen auch keine Tränen. Jetzt soll sie nach
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