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Am Dienstag sah der Rabbi rot

Am Dienstag sah der Rabbi rot

Titel: Am Dienstag sah der Rabbi rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Kemelman
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darunter mehr als andere gelitten. Vermutlich, weil wir in so vielen Ländern eine Minorität dargestellt haben. Aber ich nenne es nicht Antisemitismus, wenn man mich nicht mag, auch wenn man mich nicht mag, weil ich Jude bin. Ich betrachte das nicht als Antisemitismus, falls das Vorurteil nicht in politische, legale oder soziale Handlung umgesetzt wird. Zum Funktionieren einer vielschichtig zusammengesetzten Gesellschaft gehört es nicht, dass ein Teil der Bevölkerung jeden anderen Teil schätzt. Das ist utopisch. Es geht schon, wenn jeder Teil dem anderen gleiche Rechte zubilligt, gleichgültig, ob sie sich schätzen oder nicht. Was nun Professor Hendryx anbelangt, so machte er dann und wann abwertende Bemerkungen über Juden, aber das tat er auch bei Iren, Italienern und Schwarzen. Er neigte dazu, fast über jeden bittere, sarkastische Bemerkungen zu machen. Für mich war er ein gequälter, unglücklicher Mann.»
    Macomber nickte langsam. «Ja.»
    «Sie scheinen enttäuscht zu sein.»
    Der Präsident lachte kurz auf. «In gewisser Weise bin ich das. Es wäre für mich leichter, wenn Professor Hendryx ein Antisemit gewesen wäre.» Er blieb stumm und sagte dann schließlich: «Jetzt, wo das Semester zu Ende geht, ist bei uns alles durcheinander. Wir sind ohne Dean, und die englische Abteilung hat nicht mal einen Vorsitzenden. Normalerweise wäre Letzteres nicht so bedeutsam, aber wir sind sowieso schon unterbesetzt. Und wo nun Professor Fine geht –»
    «Muss er gehen?»
    «Das ist ja der Punkt.» Macomber griff nach einem langen weißen Umschlag, der auf der Tischplatte lag. «Vor seinem Tod hat Professor Hendryx schwere Beschuldigungen gegen Professor Fine bei Dean Hanbury geäußert, Beschuldigungen, die sie mir mitgeteilt hat und die mich bewogen haben, seinen Vertrag nicht zu verlängern. Ich nehme mir heraus, mit Ihnen darüber zu sprechen, weil Mr. Ames andeutete, dass Sie mit den Umständen vertraut sind.» Er sah den Rabbi fragend an.
    Der Rabbi bestätigte es.
    «Ich kann diese Beschuldigungen nicht einfach außer Acht lassen, obwohl Dean Hanbury durch die seither erfolgten Ereignisse nicht mehr als zuständig betrachtet werden kann. Es ist etwas, worüber ein Präsident des College einfach nicht hinweggehen kann. Nicht wenn er ein Gewissen hat.»
    «Verstehe ich richtig, Präsident Macomber, dass Sie Fine gern behalten würden, weil Sie zu wenig Lehrer haben –»
    «Und weil ich ihn für einen guten Lehrer halte.»
    «Aber weil Sie Grund zu der Annahme haben, dass er Examensaufgaben verraten hat, erlaubt ihr Gewissen nicht, dies zu übersehen?»
    «Hm – ja, so etwa meine ich es», sagte Macomber unglücklich.
    «Und wenn ich nun gesagt hätte, Hendryx sei Antisemit gewesen, dann hätten Sie sich einreden können, die Beschuldigungen entstammten einem Vorurteil, und Sie brauchten sie nicht so ernst zu nehmen?»
    «Wenn ich in Betracht zog, dass ich sie nur von Dean Hanbury gehört hatte. Ich habe nicht selbst mit Hendryx gesprochen.»
    «Und sie ist inzwischen in Misskredit geraten.»
    «Ja, unglücklicherweise gibt es aber noch diesen Umschlag. Er enthält den Beweis für die Anklage. Wie Sie sehen, ist er versiegelt, und Fine hat seinen Namen quer darüber geschrieben. Aber ich weiß, was drin steht, weil ich Dean Hanbury gesagt habe, wie ich es haben wollte. Ich habe den Text persönlich formuliert.» Er öffnete eine Schublade und nahm eine Mappe heraus. Sie enthielt ein einziges Blatt, das er über den Schreibtisch reichte. «Lesen Sie das.»
    «Es ist nicht unterschrieben», sagte der Rabbi lesend. «Das Datum fehlt.» Er sah forschend auf.
    «Das war, damit wir ein neueres Datum einsetzen konnten, falls Professor Fine sich nicht an sein Versprechen hielt.»
    Der Rabbi las weiter: Ich gestehe hiermit aus freien Stücken, dass ich eine Kopie der abschließenden Examensarbeit des Englischkurses Nr. 74 an eine Teilnehmerin des Kurses weitergegeben und ihr damit ermöglicht habe, das Sommersemester mit einer besseren Note abzuschließen. Ich bedaure diese Handlung und garantiere, dass so etwas in der restlichen Zeit meiner Vertragsdauer nicht wieder vorkommen wird.
    «Das Blatt im Umschlag ist natürlich von Professor Fine unterschrieben», sagte Macomber.
    Der Rabbi blieb kurze Zeit stumm, dann sagte er: «Die traditionelle Aufgabe eines Rabbiners ist es, Recht zu sprechen. Wussten Sie das?»
    Macomber lächelte. «Ames hat etwas Ähnliches erwähnt, als er mit mir über – den Fall gesprochen

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