Am Dienstag sah der Rabbi rot
–»
«Sagen Sie, Rabbi, unterrichten Sie eigentlich im nächsten Semester wieder?»
Es war eine von vielen Fragen, aber die Klasse verstummte, nachdem Shacter sie gestellt hatte, als hätte jeder von ihnen dasselbe fragen wollen.
«Ich hab es nicht vorgehabt.»
«Vielleicht könnten Sie ja hauptberuflich unterrichten», schlug Lillian Dushkin vor.
Aus ihrer Fragestellung leitete er ab, dass man ihn als Lehrer anerkannte, und freute sich darüber. «Warum sollte ich das wohl wünschen, Miss Dushkin?»
«Na, es muss doch viel einfacher sein als zu rabbinern,»
«Ja, aber es bringt weniger ein», erklärte Shacter.
«Ach, das wäre ihm doch piepegal», warf Luftig ein.
«Ein Rabbi ist sowieso ein Lehrer», sagte Leventhal. «Das ist die Bedeutung des Wortes.»
Ihm kam der Gedanke, dass er diese freie Diskussion über seine Zukunft noch vor gar nicht langer Zeit als unverschämt empfunden hätte, aber seit seiner ersten Unterrichtswoche hatte er sich sehr gewandelt. «Sie haben durchaus Recht, Mr. Leventhal», sagte er. «Und Sie auch, Miss Dushkin. Unterrichten ist leichter. Aber ich will weiter ein Rabbi bleiben und einer Gemeinde dienen.» Er blickte aus dem Fenster zur Wohnung auf der anderen Straßenseite hinüber und sah Männer, die er für Polizeibeamte in Zivil hielt, zwischen der Hendryxschen Wohnung und einem vor dem Haus geparkten Wagen hin- und hergehen. Er drehte sich wieder zu den Studenten um und lächelte verhalten. «Was das Unterrichtgeben im nächsten Semester betrifft: Ich bin nicht mal sicher, ob ich dieses zu Ende bringen werde.»
Hinterher, als die Stunde vorbei war und er in sein Büro ging, schloss sich ihm Mark Leventhal an. «Wissen Sie, Rabbi, meine Familie möchte, dass ich nach Cincinnati gehe, wenn ich mit dem College fertig bin. Sie hätten es gern, wenn ich Rabbiner würde.»
«Ach? Und was halten Sie davon?»
«Ich hatte eigentlich vor, auf die Universität zu gehen und dann Lehrer an einem College zu werden.»
Sie waren beim Büro angekommen. Der Rabbi holte den Schlüssel aus der Tasche. «Haben Sie jetzt eine Vorlesung, Mr. Leventhal?»
«Ja, aber ich könnte schwänzen.»
«Dann kommen Sie herein.» Er bot dem jungen Mann den Besucherstuhl an und setzte sich hinter den Schreibtisch auf den Drehstuhl. «Suchen Sie Rat, welchen Beruf Sie wählen sollen?», fragte er.
«Ach, wissen Sie, ich würd nur gern hören, was Sie davon halten, wo Sie doch beides machen.»
«Es ist natürlich heute alles anders», sagte der Rabbi. «In den kleinen Gettostädten in Osteuropa, dem Zentrum der jüdischen Kultur, wurde der Rabbiner von der Stadt und nicht von der Synagoge angestellt. Er wurde von den Bürgern unterhalten, verbrachte den größten Teil seines Lebens mit Studien und diente der Gemeinschaft dadurch, dass er Recht sprach, wenn die Gelegenheit es erforderte. Er hielt keine Gottesdienste ab und predigte nicht einmal. Er musste nur zweimal im Jahr vor der Öffentlichkeit sprechen, und das war dann meistens keine Predigt, sondern eine These über eine religiöse oder biblische Frage.»
Als er fortfuhr, erkannte er, dass es ihm ebenso sehr darum ging, Klarheit in seine eigenen Gedanken zu bringen, wie den jungen Mann zu beraten. «Er wurde vielfach von den Bürgern hoch geachtet, aus dem einfachen Grund, weil er der gelehrteste Mann der Gemeinde war, und zwar auf dem einzigen Wissensgebiet, das sie hatten, der Religion, dem Talmud, der Bibel. Aber hier in Amerika ist alles völlig anders. Er spricht nicht mehr Recht; dafür haben wir die Gerichte. Und sein Wissen ist nicht mehr allein stehend; es wird von seiner Gemeinde nicht einmal mehr als sehr wichtig betrachtet. Medizin, Jura, Naturwissenschaften, Technik gelten in der modernen Welt – und natürlich auch in seiner Gemeinde – als sehr viel bedeutsamer.»
«Meinen Sie, dass man ihm nicht mehr die gleiche Achtung entgegenbringt, wie es früher der Fall war?»
Der Rabbi lächelte. «Das könnte man sagen. Er muss sich seine Position selber erarbeiten, und die besteht größtenteils aus Verwaltungsarbeit und Politik.»
«Politik?»
«Ja. In doppeltem Sinn: Er ist normalerweise der Kontaktpunkt zwischen seiner Gemeinde und dem Rest der Bürgerschaft; und er muss sich auf seinem Posten halten. Wie jeder Mensch, der in der Öffentlichkeit auftritt, hat er immer eine Opposition, mit der er sich abfinden muss.» Er erinnerte sich an das, was Miriam gesagt hatte. «Im Grunde ist der Beruf, obwohl er sich so sehr
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