Am dreizehnten Tag: Die Bestimmung (German Edition)
ihr auch nicht besser – nicht mal für eine Minute. Am liebsten hätte sie ihn angeschrien: „Lass mich in Ruhe!“ Stattdessen schwieg sie, schubste lediglich seine Hand zur Seite, als er erneut nach ihr griff. Er machte keinen weiteren Versuch, sie zu berühren, sondern drehte sich um. Seine Schultern zuckten. Susanna schluckte. Natürlich litt er genauso wie sie. Sie sah es ihm an, jeden Tag. Wann hatte er zum letzten Mal gelacht? Sie erinnerte sich nicht.
Es lag nun fast drei Jahre zurück, als ihr Vater sie gegen seine Gewohnheit von der Schule abholte.
„Susanna, ich muss mit dir sprechen“, hatte er damals gesagt. Seine Augen hatten komisch ausgesehen, farblos, wie mit Bleistift gezeichnet. Merkwürdig, dass sie sich gerade daran erinnerte.
„Wir beide müssen jetzt zusammenhalten“, hatte er gesagt.
Als er angefangen hatte zu weinen, wusste sie, es war etwas Schlimmes geschehen. Zu diesem Zeitpunkt war ihre Mutter bereits seit drei Wochen fort gewesen, verreist in den Süden, zu ihrer Familie, ans Meer. Susanna hatte sie darum beneidet.
Satzfetzen kreisten umher. „Beim Schwimmen ertrunken ... - zu weit hinaus geschwommen ... - sie hat sich überschätzt .“
Es dauerte lange, bis Susanna die Bedeutung der Worte verstand. Albin telefonierte sehr viel. Dann bekamen sie Post. Eine Woche war vergangen, da fand Susanna im Wohnzimmer einen Pappkarton vor. Neugierig öffnete sie das Paket. Ein grünes Gefäß kam zum Vorschein. Wer schickte ihnen eine Deckelvase, eine grüne obendrein? Sie suchte nach einem Absender, doch der Karton war nicht beschriftet. Albin kam herein. Er setzte sich neben Susanna und nahm ihre Hand.
„Darin sind Mamas sterbliche Überreste.“ Er wies auf die Urne. „Ihre Asche.“
Das Gefäß faszinierte und erschreckte Susanna zugleich. Sie zögerte, dann ergriff sie die Urne und hielt sie ans Ohr. Vorsichtig bewegte sie das Ding hin und her. Nichts, es schien leer zu sein.
Das also war von ihrer Mutter übrig geblieben: Nichts!
Als eine halbe Stunde später der Bestatter die Urne abholte, weinte Susanna. Auch in den Wochen und Monaten danach weinte sie oft.
Keine schöne Erinnerung. Sie rieb sich die Augen und schüttelte die Vergangenheit ab. Ihr Blick fiel auf die Uhr. Mist , schon so spät. In einem Zug leerte sie die Tasse, griff nach ihrer Schultasche, murmelte: „Ich muss gehen“, und verließ ohne Abschied den Laden.
Sie flitzte los, spurtete schmale Gassen entlang und überquerte zahlreiche Kreuzungen. Ätzend, diese Rennerei. Sie schnaufte. Endlich sah sie in der Ferne das Schulgebäude durch die Bäume. Wenn sie noch ein wenig schneller lief, könnte sie pünktlich zum Unterrichtsbeginn da sein. Sie mobilisierte ihre letzten Kräfte.
Gerade wollte sie durchstarten, als sie kaum einen Meter von ihr entfernt jemanden stehen sah. Es handelte sich um einen alten Mann, ein richtiger Greis, mit schlohweißem Haar und wirrem Bart. Wo kam er auf einmal her? Beinahe hätte sie ihn umgerannt. Susanna blieb stehen und betrachtete den Mann neugierig.
Während sie noch darüber nachdachte, ob sie den Mann irgendwoher kannte, streckte der Alte in einer ruckartigen Bewegung seine geballte Faust in Susannas Richtung. Erschrocken sprang sie ein Stück zurück. Erneut musterte sie ihn. Eigentlich wirkte er nicht bedrohlich, alt und klapperig, wie er war und mit diesem zahnlosen Grinsen. Die Falten in seinem Gesicht vertieften sich, als er zu nuscheln begann. Susanna lauschte angestrengt, aber sie verstand kein Wort. Was wollte er ihr sagen?
Immer noch hielt der Mann Susanna seine Faust entgegen, die geschlossene Seite der Erde zugewandt. Nun öffnete er die Finger und beschrieb mit dem Arm einen Bogen. Weiße Schnipsel rieselten zu Boden - direkt vor Susannas Füße. Sie stutzte. Als sie genauer hinsah, erkannte sie, dass es Blütenblätter waren. Sie schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich handelte es sich nur um einen harmlosen Spinner. Und für einen solchen Unfug riskierte sie einen Klassenbucheintrag.
Entschlossen trat Susanna zur Seite und stapfte vorwärts. Die Mathestunde wartete auf sie. Doch sie kam nicht an dem Alten vorbei, denn im gleichen Moment sprang er auf sie zu. Für sein Alter war er erstaunlich beweglich. Seine Hand näherte sich Susannas Oberarm. Sie schauderte. Am ganzen Körper stellten sich ihre Haare auf. Langsam wurde ihr der Typ unheimlich.
„Lassen Sie mich in Ruhe“, rief sie und wich seiner Berührung aus. Er bewegte sich nicht, sah
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