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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Vaillant
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etwas Außerordentliches wuchs. Ein Wesen, das eher in einen Mythos oder ein Märchen zu passen schien: eine Fichte mit goldenen Nadeln.
    Solange ein Baum nicht ganz besonders hoch ist oder von ungewöhnlicher Form, hebt er sich nicht als Individuum hervor, und solange er nicht von seinen Mitbäumen abgesondert ist, wird er sich nur selten aus der Ferne bemerkbar machen. Doch obwohl er in einen Wald aus ähnlich großen Bäumen eingebettet war, muss man den Baum, der als die »goldene Fichte« bekannt wurde, in beiderlei Hinsicht als Ausnahme bezeichnen. Vom Erdboden aus betrachtet, ließ seine verblüffende Farbe die Menschen vor Staunen innehalten, aus der Luft betrachtet stach er hervor wie ein Leuchtfeuer und war aus meilenweiter Entfernung zu erkennen. Wie die umliegende Landschaft nahmen die Haida auch Bäume in ihren riesigen Bestand von Geschichten auf, aber soweit man weiß, ist er der einzige Baum in einer Unendlichkeit von Bäumen, dem die Haida je einen Namen gegeben haben. Sie nannten ihn K’iid K’iyaas: Stammesältester Fichtenbaum. Der Legende nach war er nämlich ein verwandelter Mensch.
    Obwohl sie den Menschen, die im Yakoun Valley lebten, gut bekannt war, wurde die goldene Fichte erst im späten 20. Jahrhundert von der Wissenschaft entdeckt. Da war sie bereits zweihundert Jahre alt und so gut wie unmöglich zu übersehen. Als der schottische Waldvermesser und Baronet Sir Windham Anstruther 1924 auf den Baum stieß, war er entgeistert. »Ich habe ihn nicht mal mit der Axt markiert«, erzählte er einem Reporter, bevor er starb. »Denn ich war wohl überwältigt von seiner Fremdartigkeit in einem Wald aus Grün.« Noch Jahre später wusste niemand so recht, was von Sir Windhams Einhorn in Baumgestalt zu halten sei. Manche vermuteten, es könne sich um eine neue Art handeln, die nur auf dem Archipel beheimatet war; andere nahmen an, in den Baum sei ein Blitz eingeschlagen oder er befände sich einfach in der Phase des Absterbens. Wie sich herausstellte, war der Baum lebendig und erfreute sich bester Gesundheit – er war nur wahnsinnig selten. So selten, dass man es für gerechtfertigt hielt, ihm einen eigenen wissenschaftlichen Namen zu geben: Picea sitchensis ›Aurea‹. Picea sitchensis ist der lateinische Name der Sitka-Fichte, und Aurea ist Lateinisch für »golden« oder »goldglänzend«, aber es kann auch »schön« oder »prachtvoll« bedeuten. Sechzehn Stockwerke hoch und mit einem Umfang von mehr als sechs Metern war die goldene Fichte einzigartig in der botanischen Welt.

KAPITEL ZWEI
    Der Anfang vom Ende
    Unglaublich, dass sie all die schönen Bäume fällen … nur, um Zellstoff für ihre verdammten Zeitungen herzustellen, und so was schimpft sich dann Zivilisation.
    Churchill zu seinem Sohn während
eines Besuchs in Kanada im Jahr 1929
    H olzfäller und Holzsucher wurden von demselben Drang nach Reichtum und Abenteuer ins Yakoun Valley gelockt, der einst Grant Hadwins Großeltern während des Ersten Weltkriegs über die Prärien hatte ziehen lassen. In jenen Tagen drehte sich an der West Coast alles um Big Timber, also das dicke Geschäft mit großen Stämmen, und die grenzenlosen Wälder müssen den Leuten wie ein Neuanfang vorgekommen sein.
    Selbst heute noch fällt es schwer, sich die ungeheure Menge an Holz vorzustellen, die während des 19. und 20. Jahrhunderts aus diesen Wäldern kam. Irgendwo ent lang der Küste vom südöstlichen Alaska bis zum nördlichen Kalifornien aufgenommene Fotos zeigen kräftige, derbe Männer in robuster Kleidung, die wie Zwerge wirken vor den monolithischen Zylindern, die kaum als Bäume zu identifizieren sind, sondern eher an merkwürdig symmetrische Felsbrocken oder die umgefallenen Säulen gigantischer Tempel erinnern. Ein älterer Angehöriger der Haida, der einen Großteil seines Lebens damit verbracht hat, für ein Holzunternehmen aus dem Süden Bäume zu fällen, zeigte, um den Umfang der Bäume zu beschreiben, mit denen er es tagtäglich zu tun hatte, zur Decke. »Außerdem sackte man auch so tief in den Boden ein«, erklärte er, »dass man schließlich von Kopf bis Fuß voll Schlamm war.«
    Wer sich darauf einlässt, Regenwaldbäume abzuholzen, bekommt es nicht nur mit einer eher für Amphibien geeigneten Nässe zu tun, sondern sieht sich auch extremen Gefahren ausgesetzt. Selbst heutzutage ist trotz umfassender Sicherheitsbestimmungen und modernsten Geräts die Wahr scheinlichkeit, bei der Arbeit ums Leben zu kommen, für einen

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