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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Vaillant
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beschädigt wird, was jedoch an einem Berghang kaum möglich ist.) Ein kontrollierter Fall wird durch die Erzeugung eines »Scharniers« an der Bruchkante erreicht. Nach Bestimmung der optimalen Rich tung, in die der Baum fallen soll – in der Regel ein Kom promiss aus persönlicher Priorität, natürlicher Neigung des Baumes und Beschaffenheit des Geländes –, wird auf der Seite der gewünschten Fallrichtung ein »Keil« ausgeschnitten. Steht eine Säge zur Verfügung, so wird zunächst ein waagerechter Schnitt, der sogenannte Fallkerb, vorgenommen, der etwa ein Drittel des Durchmessers in den Stamm reicht – eine ernst zu nehmende Aufgabe bei einem West-Coast-Baum. Vor Einführung der Kettensäge wurde diese in mehreren Schritten bewältigt – man sägte zunächst ein Stück und entfernte dann das Holz darüber mit einer Axt, um mehr Platz zu schaffen und die Reibung am Sägeblatt zu reduzieren. Dann folgte ein weiterer Sägeabschnitt, da rauf wiederum das Hacken mit der Axt, und auf diese Weise drangen die Holzfäller immer weiter in den Stamm vor. Auf vielen alten Fotos sieht man eine Whiskeyflasche in Reichweite der Holzfäller von einem Baum hängen; diese Fla schen enthielten nicht etwa Whiskey zum Ölen der Männer kehlen, sondern Öl zum Schmieren der Sägen auf ihrem Weg in die feuchten, oft saftigen Stämme. Gibsons Trummsägen – breite, gezahnte Sägeblätter mit besenstilartigen Griffen an beiden Seiten – waren zwei oder drei Meter lang, seine Doppeläxte von Schneide zu Schneide mehr als dreißig Zentimeter breit. Um die vier Meter dicke, achthundert Jahre alte »Doug«-Fichte zu Fall zu bringen, werden zwei auf gegenüberliegenden Springboards sitzende Männer einen ganzen Tag benötigt haben. Bei Eintritt der Dämmerung, als das Kernholz schließlich mit einem markerschütternden Ächzen nachgab, ließen die Männer ihr Werkzeug fallen, sprangen von den Brettern und flüchteten sich bergauf in das Salal-Dickicht, das den steil ansteigenden Waldboden bedeckte. Von dort sahen sie, wie die Frucht ihrer Arbeit mit dem Gewicht eines Jumbojets auf die Erde krachte.
    Gibson schrieb:
    Es schien, als würde der Baum in der Luft für einen Moment innehalten, wie ein Adler in Zeitlupe, bevor er seinen Weg bergab antrat, sich der Länge nach überschlug, um dann in einem Winkel von fünfundvierzig Grad im Wasser zu verschwinden. Mit einer Verzögerung von gefühlten fünf Minuten kam er plötzlich wieder an die Oberfläche wie ein riesiger aus den Tiefen des Meeres auftauchender Wal. Er war bar aller Äste, und auch der größte Teil der Rinde war auf dem dreihundert Meter langen Weg über Steine und Windbruch abgestreift worden.
    In seinen Memoiren Bull of the Woods verzichtet Gibson auf die Beschreibung des Lärms, den ein Baum dieser Größe beim Abwärtssturz verursacht; es muss ein gewaltiger Donner gewesen sein, eine einzige tosende, alles erschütternde Lawine. Bäume aus dem Altbestand der West Coast sind weltweit die schwersten Objekte, die je im Rahmen routinemäßiger Arbeit »umgelegt« wurden.
    Daher muss man sich die Holzgewinnung an der West Coast in ihrer Blütezeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht wie das Fällen von Bäumen, sondern vielmehr wie eine Art Walfang zu Lande vorstellen: In abgelegenen Regionen verwendeten entschlossene, schlecht bezahlte Männer an fälliges technisches Gerät und einfache Handwerkszeuge, um riesige, oft unberechenbare Geschöpfe zu bändigen, die das Zeug hatten, sie wie Käfer zu zerquetschen, und es auch taten. In einem einzigen County an der Küste Washingtons kamen in nur einem Jahr (1925) mehr als hundert Männer beim Holzfällen ums Leben, und die Möglichkeiten zu verunglücken sind vielfältig – auch heute noch.
    Betrachtet man die Rate aller Unfälle mit tödlichem Ausgang, so sind es die gewerblichen Buschpiloten, die in Nordamerika den gefährlichsten Job ausüben, doch sie bil den nur eine Nischensparte. Den zweiten Platz teilen sich die weitaus zahlreicheren Fischer und Holzfäller, wobei der Vergleich dieser beiden Branchen irreführend ist. Während Fischer häufig in Gruppen umkommen, etwa bei Schiffsunglücken, erwischt es bei den Holzfällern meist nur einen Mann zur Zeit. Hinsichtlich der absoluten Anzahl von Unfällen haben Holzfäller daher viel mehr mit Buschpiloten gemeinsam. Berücksichtigt man auch die Tatsache, dass Holzfäller an Land arbeiten und das bei Tageslicht, meist nicht einmal im Winter – anders als auf See und

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