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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Vaillant
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Holzfäller etwa dreißig Mal höher als für den durchschnittlichen nordamerikanischen Arbeiter. Das eigentliche Fällen des Baumes ist dabei nur eine von vielen großen Etappen einer langen und beschwerlichen Reise, die damit beginnt, Mensch, Vieh oder Maschinen Zugang zu einer häufig weglosen Wildnis zu verschaffen, und damit endet, einen Markt zu beliefern, der womöglich einen Kontinent entfernt liegt. Der Vorgang des Fällens ist dabei das kürzeste Ereignis; in seiner Bedeutung für die Holzindustrie etwa vergleichbar mit der Bedeutung des Zeugungsaktes für die Gründung einer Familie. Beide Vorgänge regen die Fantasie aus ähnlich dramatischen Gründen an; sie sind entscheidende Momente, nach deren Verstreichen mit Ausnahme der Tatsache, dass der schwerste Teil der Arbeit noch bevorsteht, nichts sicher ist. Ein einzelner großer Stamm kann auch nach einer Kürzung auf neun Meter Länge und Entfernung der Äste immer noch fünfzig Tonnen wiegen, so viel wie ein beladener Sattelschlepper. Ein ganzer Baum wiegt etwa das Fünffache. Und irgendwie muss dieser Koloss – halb Dampfwalze, halb Rammbock und glitschig wie ein Aal – aus einem Wald geschafft werden, der zudem vielleicht auf einem Gebirgshang mit einer Neigung von fünfundvierzig Grad wächst. An einigen Orten, etwa im Yakoun Valley, muss auf Methoden zurückge griffen werden, die sonst nur bei der Gewinnung von Naturstein zur Anwendung kommen: Einige Stämme sind so groß, dass sie mit Dynamitkeilen längsseits gespalten werden, um überhaupt bewegt werden zu können.
    Zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnte ein einzelner Holzfäller, ausgestattet mit staatlicher Lizenz zum Fällen von Hand und mit einer Axt, einer Säge und einer Hebevorrichtung (dem sogenannten Fällheber) praktisch nach Belieben an der Küste umherstreifen und ein gutes Geschäft machen, indem er Bäume mit günstigem Standort direkt in den Ozean fallen ließ. Gordon Gibson, an der West Coast eine Legende unter den Holzfällern alten Schlags, fing als einfacher Holzfäller mit Axt an und stieg später zu einem Großunternehmer und wichtigen Politiker an der Küste von British Columbia auf. Als er das mittlerweile sehr bekannte Gebiet des Clayoquot Sound auf Vancouver Island nach vielversprechenden Bäumen absuchte, stieß er im Jahr 1933 in einer Höhe von dreihundert Metern auf einen besonders beeindruckenden Baum. Es handelte sich um eine Douglas-Fichte – bis heute die an der Nordwestküste am häufigsten vorkommende Art – und ein wahres Prachtexemplar: vier Meter Durchmesser, siebzig Meter Höhe und ein perfekt zylindrischer Stamm, dessen Symmetrie erst auf halber Höhe vom ersten Ast unterbrochen wurde. Gibson und seine Männer begannen, den Baum mit einer Trummsäge zu bearbeiten, wobei sie planten, ihn talwärts zu fällen und den dreihundert Meter lan gen Weg bis zum Wasser kraft seiner eigenen ungeheuren Schwungmasse bewältigen zu lassen.
    Bevor jedoch mit dem Fällen eines solchen Baumes begonnen werden konnte, mussten mehrere Stufen in den Stamm eingearbeitet werden, um den breiten Fuß mit seinen kräftigen Wurzelanläufen zu überwinden. Da der Wur zelanlauf, der Übergang von den Wurzeln zum Stamm, bei großen Bäumen ein gutes Stück über Kopfhöhe liegen kann, wurden für gewöhnlich mehrere seitliche Einkerbungen in den Baum geschlagen, jede etwa fünfzehn Zentimeter tief und in der Größe mit einem Briefschlitz vergleichbar. In diese Einschnitte setzte man sehr stabile Bretter, sogenannte Springboards, der Länge nach ein und schuf so mobile Arbeitsbühnen, auf denen die Holzfäller beim Bearbeiten der riesigen West-Coast-Bäume mit Axt und Säge einen sicheren Stand hatten. Ein Metallschuh mit scharfer Lippe verhinderte dabei das Herausrutschen der Springboards, die im Sägerhythmus der Männer auf- und abfederten. Neil McKay, ein alter Hase von Vancouver Island, der zur Holzfällerei kam, als in den Wäldern noch der Einsatz von Pferden üblich war, erinnert sich an Springboards bis zu einer Höhe von fünf oder sechs »Stockwerken«. Sie werden auch heute noch hin und wieder verwendet.
    Trotz des weiterentwickelten Geräts hat sich die Technik des Holzfällens im Laufe der Zeit kaum verändert. Das Ziel besteht nach wie vor darin, einen vertikalen Schaft so kontrolliert wie möglich in die Horizontale zu bringen und dabei dem Baum möglichst wenig Schaden zuzufügen. (Einige Holzfäller legen ein Bett aus Zweigen aus, damit der Stamm beim Aufprall nicht

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