Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)

Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)

Titel: Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Glaubrecht
Vom Netzwerk:
und das andere nicht.« Und wir müssen fragen, ob die direkte Auseinandersetzung und der unmittelbare Bezug von Umwelt zu Merkmal vielleicht deshalb ein zentrales Thema für Wallace sind, weil sich darin vieles über seine Herkunft und eigene Lebensgeschichte verrät, weil er die unmittelbare Härte des Lebens kennt und sich immer durchbeißen musste.
    Wie auch immer: Für Wallace gilt nur der »pure Darwinismus«, wie er es nennt. In seiner Autobiographie erklärt er stolz, er sei »more Darwinian than Darwin«. So unterstützt er Darwins Selektionstheorie nicht nur; er verteidigt die Idee der allein natürlichen Selektion auch dann vehement, als er glaubt, dass Darwin selbst seine Theorie aufzuweichen versucht. Andererseits sieht es wieder so aus, als folge Wallace Darwin nur ein Stück weit des Weges, den er dann nicht konsequent bis zum Ende geht. Damit gelingt Wallace ein eigenartiges Kunststück, aus dem uns der Widerspruch geradezu anspringt. Da ist er zeitlebens einer der energischsten Verfechter des Darwinismus – und zugleich eine sehr kritische Stimme, die dessen Grenzen aufzeigt.
    Wenn wir genau hinsehen, erkennen wir, dass es eigentlich sogar drei Paradoxien sind. Einerseits ist Wallace als strikter Selektionist überzeugt, dass evolutionärer Wandel einzig durch natürliche Selektion erklärt werden kann. Deshalb lehnt er sogar Offenkundiges wie die zusätzlich wirkende sexuelle Selektion ab, obgleich sie sich – wie bei den Geweihfliegen und Paradiesvögeln – unmittelbar vor seinen Augen abspielt. Andererseits glaubt er dann die Grenzen der natürlichen Selektion dort erkannt zu haben, wo beim Menschen Gehirn und Verstand ins Spiel kommen. Einmal ist er sehr konsequent und dann wieder überhaupt nicht. Schließlich dürfen wir nicht jenes dritte Paradoxon vergessen: Er, Wallace, prägte in einer entscheidenden Zeit den Darwinismus – und überlässt gleichzeitig das Ruhmespodest allein Charles Darwin.
    Wallace hat die Widersprüche und Paradoxien sicherlich empfunden und für sich gelöst. Wenigstens einige. In seinem im September 1890 erscheinenden Buch »Human Selection« lässt er wie im Theater jener berühmte Deus ex machina eine überirdische Institution auf die Bühne der Naturforschung hinabschweben, um seine Vorstellung der Selektionstheorie zu retten. So sehr Wallace damit die natürliche Auslese als einzigen wirksamen Faktor retten will, so sehr verstrickt er sich in Widersprüche und muss sich auf die Annahme einer mysteriösen höheren Intelligenz zurückziehen, die zu belegen schwerfällt. Bei aller Konsequenz ist gerade dies nicht konsequent für einen Naturforscher, sein Ansatz mithin höchst inkonsistent.
    Letztlich ist Wallace im Denken wohl doch nicht so verwegen wie bei seinen abenteuerlichen Reisen am Amazonas oder im Archipel. Bei der letzten Konsequenz – nämlich zu denken, dass auch der Mensch ein Kind der Natur und der Selektion ist, er daher vollständig ins natürliche System gehört – scheut Wallace einem Springpferd vorm Wassergraben gleich zurück, wo Darwin – der Denker aus Downe – längst darüber hinweggesetzt ist.
    Darwins Rettung: Ende der 1870er-Jahre hat sich Wallace’ finanzielle Lage erheblich verschlechtert. Das Kapital, das er keine zwei Jahrzehnte zuvor mit dem Verkauf seiner Sammlungen erzielte, hat er durch unkluge Investitionen und weitere unglückliche finanzielle Entscheidungen längst eingebüßt; zudem unterstützt er Mutter und Verwandte. Wann immer Wallace auch versucht, das Geld zu mehren, es ergeht ihm wie seinem Vater – er verliert dadurch nur immer mehr. Bald finanziert sich Wallace damit, in einer Schule für indische Zivilangehörige Examina zu korrigieren – und vom Schreiben, von den Honoraren für Aufsätze und Bücher. So verfasst er auch Artikel für die berühmte »Encyclopedia Britannica«, das englische Gegenstück zum deutschen Brockhaus. Wer sich also jemals gefragt hat, wer diese wohlinformierten, kompakten Artikel verfasst hat (und vor allem warum sich wohl jemand dieser Mühe unterzieht), der sollte an Alfred Russel Wallace denken. Er war damit zugleich einer der Vorgänger jener, die heute für Wikipedia schreiben – wobei ein Wallace heute davon nicht leben könnte, da das jetzige Geschäftsmodell nur ohne Geldtransfer funktioniert. Ohne Anstellung und nur mit den Einnahmen aus seiner schriftstellerischen Tätigkeit genießt Wallace zwar große geistige Freiheit, aber nie Sicherheit.
    Von 1880 an muss er sich in

Weitere Kostenlose Bücher