Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)
insbesondere nicht seines Geistes und Gehirns. Hier stößt das sonst überall waltende Nützlichkeitsprinzip an seine Grenzen, meint Wallace, der in der Folge davon in fundamentaler Weise von Darwin abweicht. Mit den Jahren werden zwar noch weitere Differenzen zwischen unseren beiden Naturforschern deutlich, auch über die unterschiedlichen Ansichten zur sexuellen Selektion hinaus (etwa bei Vorkommen und Verbreitung arktischer Pflanzen auf isolierten Bergspitzen im Zusammenhang mit den Eiszeiten oder der Ausbreitungsmöglichkeit von Pflanzensamen, die isolierte ozeanische Inseln besiedeln, der Vererbung erworbener Eigenschaften oder der sogenannten Pangenesis). Aber nirgends sind die Diskrepanzen so deutlich und die Implikationen so weitreichend wie bei der Frage zur Abstammung des Menschen und dem Ursprung der Moral.
Als Darwin mit seinem Buch zum Thema Mensch gleichsam zum Gegenschlag ausholt, schreibt er in einem Brief von November 1870 an Wallace, noch während er an den Druckfahnen arbeitet: »Mein Buch bringt mich halb um vor Erschöpfung, und es wird mich, so fürchte ich, auch um Ihre Wertschätzung bringen.« Heute sehen wir deutlich, dass Darwin, was die Idee der Auslese angeht, gleichsam ein Pluralist ist. Tatsächlich hat er schon am Ende des Einleitungskapitels zu seiner »Entstehung der Arten« geschrieben: »Ich bin fest davon überzeugt, dass die natürliche Zuchtwahl das wichtigste, wenn auch nicht einzige Mittel der Abänderung war.« Später wird Darwin sehr klar sehen, dass es Eigenschaften gibt, die keine Anpassung darstellen, und die Chancen zu überleben damit nicht direkt in Zusammenhang stehen. Wallace dagegen ist der Ansicht, dass bei jedem Organ sorgfältig untersucht werden muss, welchen Zweck und Ursprung es hat. Bevor darüber etwas bekannt sei, könne ein Organ oder Merkmal nicht als unnütz angesehen werden. In einem Aufsatz 1867 nennt er es »eine notwendige Ableitung von der Theorie der natürlichen Selektion, dass nichts existiert, was nicht für ein Individuum oder jene Form, die es besitzt, nützlich ist oder einstmals nützlich war«.
Ob nun stets die Umwelt direkt auf jedes erkennbare Merkmal wirkt und ob dies immer mit einem direkten Selektionsvorteil oder -nachteil verbunden ist, gehört zu jenen Fragen, über die Evolutionsbiologen noch ein volles Jahrhundert nach Wallace und Darwin debattieren. Wir wollen diese Debatte (die unter dem Stichwort Pan-Adaptionismus firmiert) hier nicht im Detail nachzeichnen, obwohl viel zu sagen wäre. Etwa, dass Lebewesen gleichsam integrierte Systeme sind, soll heißen: Die Veränderung eines Merkmals, auf das die Selektion wirkt und das damit angepasst wird, kann zu Veränderungen bei anderen Merkmalen führen, die indes ihrerseits nicht direkt an Auslese und Anpassung ausgerichtet sind. Bereits Darwin wusste, dass ein Organ unter der natürlichen Selektion für eine bestimmte Funktion ausgebildet worden sein kann, aber danach später in der Lage ist, anderen, nicht selektiv erworbenen Fähigkeiten zu dienen. Als das beste Beispiel dafür ist heute ebenjener umstrittene Verstand des Menschen anzusehen, bei dem es wohl vielfach zu einer solchen Koppelung und Funktionsveränderung gekommen ist. Moderne Evolutionsbiologen sprechen hier gern von einer sogenannten »kognitiven Nische« des Menschen, für die er mit seinen mentalen Fähigkeiten anfangs adaptiert war, die er dann aber verlassen hat.
Die Dreifach-Paradoxie von Wallace’ Darwinismus: Uns geht es hier darum, festzuhalten, dass Wallace im Zusammenhang mit der natürlichen Selektion der eigentliche, lupenreine Darwinist ist. Er ist überzeugt davon, dass wirklich jedes Merkmal, jedes Organ, jede Eigenschaft, jede Verhaltensweise eine direkte und unmittelbare Anpassung an die Umwelt ist; dass sie wichtig im Kampf ums Überleben ist und darüber entscheidet, ob Lebewesen besser, also geeigneter für diesen Überlebenskampf sind oder nicht. Wallace glaubt an den ganz gegenständlichen, ewigen »struggle for existence«, wie er sich vor allem im Fressen und Gefressenwerden ausdrückt. Auch bei Darwins sehr hellsichtiger, aber für seine Zeit noch nicht fassbaren Idee der sexuellen Selektion kann Wallace später nur zugestehen, dass es Konkurrenz und Kampf der Männchen untereinander gibt; nicht aber, dass es dabei im Wesentlichen um die Wahl seitens der Weibchen geht. »Wir können kaum glauben, dass nur ein Geschlecht, das weibliche, allgemein einen Geschmack für Farben haben sollte
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