Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)
»underdog«, als der er häufig dargestellt wird. Und so gern die Gegensätze zwischen Wallace und Darwin in Sachen Herkunft, Ausbildung und Lebensumstände betont und die Suche nach dem Evolutionsprinzip zum Kopf-an-Kopf-Rennen zweier Rivalen stilisiert werden; es gibt auch reichlich Gemeinsamkeiten. Beide begeben sich auf jahrelange Expeditionen, machen dabei ganz ähnliche Beobachtungen an der Tier- und Pflanzenwelt ferner Regionen, beide werden durch die gleichen Schriften anderer beeinflusst, deren Gedanken sie nutzbringend für ihre eigenen Überlegungen einsetzen. Die Entdeckung der Evolution liegt zu dieser Zeit nahe; und doch verwundert es nicht, dass sie ausgerechnet Wallace und Darwin gelingt.
Mehr als einmal ist zudem vermutet worden, dass die im viktorianischen England stark gegliederte Klassengesellschaft und die darin eingenommene Rolle letztlich dafür verantwortlich ist, dass Wallace sich dem delikaten Arrangement fügt und niemals Anspruch darauf erhebt, als Erster die Theorie zur Entstehung von Arten formuliert zu haben. Doch diese Idee überzeugt nicht wirklich, wenn wir sehen, wie unkonventionell und wenig rollenkonform sich Wallace ansonsten verhält. Eher als die Lebensumstände dürften es seine ihm eigene Bescheidenheit und Demut gewesen sein; vielleicht trugen dazu auch frühere relativierende Erfahrungen bei, allen voran die Todesgefahr, der er beim Untergang seines Schiffes im Atlantik entgeht?
Zweitens – Wie Wallace die Evolution fand: Wallace erkennt jenes große, viel gesuchte Naturprinzip, das Tiere und Pflanzen sich an ihre Umwelt anpassen lässt, keineswegs nur zufällig. Angeblich sei Wallace’ Entdeckung nur eine Art Unfall gewesen: »Something of an accident. He was unaware of what was coming«, meint zum Beispiel der Wallace-Aficionado und Biograph Charles Smith. Doch er liegt falsch. Denn gänzlich anders als Darwin, der anfangs noch als Theologe von der Konstanz der Arten überzeugt war, begibt sich Wallace bereits als bekehrter Evolutionist auf Reisen, nachdem er damals kursierende und in viel diskutierten Büchern publizierte Ideen zu seinen eigenen macht. Wallace lebt zwar jahrelang – zuerst am Amazonas, später im indo-australischen Archipel – von seinen Naturaliensammlungen. Jedoch ist er mehr als bloßer Sammler; er hat ein recht klares Bild von dem, wonach er außerdem sucht, und er hat einen Plan. Kommt er auch zwischenzeitlich mehr als einmal vom direkten Weg ab, so nimmt er – nochmals ganz anders als Darwin – ein regelrechtes Forschungsprogramm mit ins Gelände. Die letzte Erkenntnis am Ende des Archipels trifft ihn dann plötzlich; aber sie trifft einen vorbereiteten Geist.
Wallace findet das Prinzip der natürlichen Auslese als verantwortlichen Mechanismus bei der Entstehung und Entwicklung der Arten, weil er mit offenen Augen die Fülle, Vielfalt und Vielgestaltigkeit der Arten in ihren natürlichen Lebensräumen wahrnimmt. Als wichtigste Indizien dienen ihm dabei lokale Vorkommen und geographische Verbreitung der einzelnen Formen und Arten im indo-australischen Insel-Archipel. Dabei weisen ihm nicht so sehr die augenfälligen Paradiesvögel oder der eigentümliche Waldmensch Orang-Utan den Weg, für deren Erbeutung er vor allem bezahlt wird; vielmehr sind es Vielfalt und Vorkommen der unzähligen, eher unscheinbaren Insekten, insbesondere der Käfer und Schmetterlinge.
Und um gleich noch mit einer weiteren, hartnäckigen Legende aufzuräumen: Es ist Alfred Russel Wallace und nicht Charles Darwin, der erstmals explizit auf die außergewöhnliche Bedeutung der (von Darwin besuchten) Galapagosinseln samt ihrer einmaligen Tier- und Pflanzenwelt für die Lösung der großen Artenfrage aufmerksam macht. Tatsächlich beschreibt Wallace Galapagos als Freiland-Labor für die Auswirkung von natürlicher Auslese und Anpassung – gleichsam als eine Art Werkstatt der Evolution. Und wo wir schon dabei sind: auch die Metapher von der dank Evolution miteinander verwandten Abstammungslinien als ein sich weit verzweigender Stammbaum – »a branching tree, as the best mode of representing the natural arrangement of species and their successive creation« – wurde zuerst 1855 von Alfred Russel Wallace in einem publizierten Aufsatz verwendet. Darwin konnte darüber nur staunen.
Drittens – Die Wirkung der Selektion: Der Entdeckung des Evolutions-Prinzips ist eine Kette von essenziellen Ereignissen und Erkenntnissen vorausgegangen, und sie zieht eine Kette von
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