Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)
Sonderstellung einräumen. Kurioserweise ist allein Darwins Auffassung der Evolution im Bewusstsein geblieben, dagegen wurde die Ansicht Wallace’ beinahe vergessen; obgleich doch seine grundsätzliche Skepsis von vielen Menschen bis heute geteilt wird. Kurios ist überdies, dass Wallace’ kritische Befähigung ihn gerade in solchen Punkten von Darwin abweichen lässt, die bis heute am stärksten umstritten sind, wenn sie nicht ganz abgelehnt werden. Allerdings muss nochmals betont werden, dass Wallace eine Sonderstellung des Menschen, obgleich spiritualistisch veranlasst und anmutend, letztlich aus wissenschaftsimmanenten Gründen annahm; und somit eben nicht aus konfessionellen Überzeugungen heraus, wie sie heute vielfach verbreitet sind. Nicht seine Religiosität offenbart sich darin, vielmehr seine Zerrissenheit zwischen Naturforschung und der Überzeugung von der Existenz eines Höheren, der sich Wallace stellt; wenngleich er dieses Dilemma zeit seines Lebens nicht zu lösen weiß. Das von ihm genutzte Mittel erweist sich als untauglich, letztlich als paradox: Er will konsequent sein und ist darin dann nicht konsequent genug. Es bleibt paradox, dass er ebenso vehement für die natürliche Selektion als Ausdruck eines agnostischen Materialismus streitet, wie er als bekennender Spiritualist deren Grenzen unterstellt. Es ist, wenn man beim oft zitierten Bild von Wallace als Darwins Mond bleiben will, seine dunkle Seite; ein Paradoxon, das so nicht aufzulösen ist. Doch auch wenn es ihm nicht gelingt: Was uns Wallace heute einerseits problematisch, andererseits wieder sympathisch macht, ist sein – man muss sagen: geradezu verzweifelter – Versuch, die materialistische Darwin’sche Sicht mit einem erstrebenswerten, aber vielleicht unerreichbaren Humanismus zu versöhnen.
Dieses humanistische Bemühen und sein »single view of life« sind es, die Wallace zu jener missverstandenen, weil widersprüchlichen und verwirrenden, weil vielschichtigen Persönlichkeit machen. Daher dürfen wir ihn nicht nur als Mitentdecker des Evolutionsgedankens und als Begründer der Biogeographie wahrnehmen; nicht nur als jemanden, der wichtige Beiträge zu Selektion und Adaptation, zu Mimikry und der heutigen Ökologie liefert. Für ihn ist der Spiritualismus so wichtig wie die Speziestheorie und die zoologische Geographie. Deshalb führt er sowohl eine der großartigsten Umwälzungen im Denken der westlichen Welt an (die materialistische Evolutionstheorie), wie auch andererseits eine der Gegenbewegungen dazu. So reich und umfangreich Wallace’ Werk ist, so voller Widersprüche erscheint uns letztlich seine Person. In ihr spiegeln sich die Widersprüche und Rätsel seiner Zeit, die bis in unsere reichen. Und deshalb ist Wallace einer der wichtigsten und zugleich einer der am wenigsten verstandenen Wissenschaftler.
Fünf Missverständnisse um Wallace: Wie wir in der vorliegenden Biographie gesehen haben, ist gleich eine ganze Kette von Missverständnissen mit Wallace’ Person und seiner Rolle in der Wissenschaft des viktorianischen Zeitalters verbunden. Jedoch lassen sie sich der Reihe nach auflösen und so ein neues Bild nicht nur von Alfred Russel Wallace, sondern der mehr als anderthalb Jahrhunderte währenden Auseinandersetzung um die Abstammungstheorie entstehen.
Erstens – Status: Die Missverständnisse um Wallace beginnen bereits mit seiner Geburt in vergleichsweise bescheidene Verhältnisse, die ihn schon mit kaum vierzehn Jahren zwingen, die Schule zu verlassen, um sich bezahlte Arbeit und immer wieder wechselnde Anstellungen zu suchen. Doch entstammt Wallace keineswegs der sogenannten Arbeiterklasse, wie immer wieder irrtümlich unterstellt wird. Viel eher gehört sein Vater mit einem Abschluss in Jura zur Mittelschicht, wie auch der Vater Darwins, der studierter Arzt ist. Während die Darwins indes zu Wohlstand kommen, ihren Reichtum und ihr gesellschaftliches Ansehen geschickt mehren, verarmt Wallace’ Familie. Alfred selbst gehört – als Amateur, der Naturforschung letztlich für seinen Lebensunterhalt betreiben muss – nie wirklich zu den höheren Kreisen der britischen Gesellschaft.
Was Darwin und Wallace in dieser Hinsicht tatsächlich unterscheidet, hängt weniger mit der gesellschaftlichen Klasse zusammen als vielmehr mit den ihnen zur Verfügung stehenden Finanzmitteln. Das aber muss man wissen, wenn es um Wissenschaft im viktorianischen Zeitalter geht. Wallace ist jedenfalls nicht der unterprivilegierte
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