Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)
gleich sehen werden, findet Alfred Russel Wallace bereits in Sarawak einen wichtigen Mosaikstein, ja den Grundstein zur Theorie des Artenwandels: die Erkenntnis, dass Arten in enger räumlicher und zeitlicher Beziehung stehen und sich verändern, dass sie eben nicht – anders als die christliche Schöpfungsgeschichte glauben macht – durch göttliche Fügung kreiert wurden, jede getrennt für sich. Keine Frage, dass solch eine Theorie sicher ein eigenes Werk wert gewesen wäre. Wir stellen uns das also vor: Alfred Russel Wallace und ein Buch zur Evolution der Arten. Wann wird es erscheinen? Zwei Jahre vor Darwins Buch, vielleicht schon 1856 oder erst im darauf folgenden Jahr? Es hätte die Welt verändert oder doch nichts bewirkt?
Als Erster hat der amerikanische Wallace-Biograph Lewis McKinney bereits 1966 Wallace’ Arten-Notizbuch in England entdeckt und ausgewertet. Immer wieder einmal wurde es daraufhin von Wissenschaftshistorikern erwähnt, so etwa 1968 von Barbara Beddall und 1984 John Langdon Brooks; für andere war es dagegen allenfalls eine Randbemerkung wert, wenn überhaupt. Indes hielten sie meist McKinneys Rekonstruktion für zutreffend, wonach Wallace dieses Arten-Notizbuch bereits unmittelbar nach seiner Ankunft auf Borneo anlegte und mit Notizen füllte, also während der Regenzeit Ende 1854 oder Anfang 1855; in jedem Fall, bevor er dann im Februar 1855 jenen Artikel verfasste, mit dem er erstmals die Wissenschaftswelt in England aufhorchen ließ. Welche Kette von Ereignissen dazu geführt haben mag, dass das Notizbuch indes nicht vor diesem Artikel (und mithin als Grundlage), sondern umgekehrt erst Monate später, also als Fortsetzung seiner Überlegungen, angelegt wurde, soll hier näher untersucht werden. Wichtig ist festzuhalten, dass Wallace – im Kopf und nachweislich in diesem Notizbuch – bereits ein ganzes Werk über Arten konzipiert. Und zwar jetzt beinahe zeitgleich mit Charles Darwin, dem Wallace bald die ersten Briefe schreibt – und der dann kurz darauf beginnt, endlich das Manuskript für sein eigenes, lange geplantes »Species Book« zu verfassen. Spätestens jetzt weiß Charles Darwin, dass ihm Wallace auf den Fersen ist. Und bereits in seiner ersten Antwort an Wallace macht er deutlich, dass er selbst – Darwin – bereits seit zwanzig Jahren an der Artenfrage arbeitet. Es ist mehr als eine deutliche Warnung an Wallace.
Das Haus am Sarawak – Februar 1855, zur Zeit des Monsuns: »Ein jeder Naturforscher, welcher seine Aufmerksamkeit auf die Frage nach der geographischen Verbreitung der Tiere und Pflanzen gerichtet hat, muss an den sonderbaren Tatsachen, welche sie darbietet, Interesse genommen haben. Viele dieser Tatsachen sind ganz verschieden von dem, was man hätte erwarten sollen, und sind bis jetzt zwar als höchst seltsame, aber auch als ganz unerklärbare Tatsachen angesehen worden.«
Seit Tagen sitzt Alfred Russel Wallace bereits an dem Manuskript für diesen neuen Aufsatz. Statt Schmetterlinge zu fangen, sucht er nach Worten und er ringt mit Formulierungen, um seine Gedanken klar auszudrücken. Es sind entscheidende Tage, vielleicht seine wichtigsten, die er hier in dem idyllisch direkt am Sarawak-Fluss gelegenen Haus am Fuße der Santubong-Berge verbringt. Noch hat er sich vom Malariafieber nicht völlig erholt, doch es wird einer seiner stärksten Aufsätze – einer von erheblichem Gewicht und mit schwerwiegenden Folgen. Seit Tagen regnet es unablässig und verhindert, dass er den einzigen Raum des auf massiven Bäumstämmen gebauten Stelzenhauses verlassen und wieder sammeln gehen kann. Wie immer in solchen Fällen nutzt Wallace die Zeit zum Nachdenken und Schreiben. »Die bedeutende Vermehrung unserer Kenntnisse innerhalb der letzten zwanzig Jahre sowohl hinsichtlich der gegenwärtigen als auch der vergangenen Geschichte der organismischen Welt hat eine solche Masse von Tatsachen aufgehäuft, dass diese uns wohl eine genügende Grundlage zu einem umfassenden Gesetz abgeben können, welches sie alle begreift und erklärt und neuen Untersuchungen eine bestimmte Richtung anweist.«
Wie ein halb durchsichtiger Perlenvorhang tropft der Regen in Schnüren vom Rand der satt getränkten Lagen aus Palmwedeln herab, mit denen die breite Veranda des kleines Hauses überdacht ist. Immer wieder schaut Wallace von seinem Manuskript auf und hinaus. Sein Blick schweift hinab zum Fluss, an dessen Ufer Nipa- und Nibong-Palmen wachsen. Träge ergießt der Sarawak hier sein
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