Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)
Schreiben nicht mehr, als er nach den ersten zwei Jahren seines Aufenthalts finanziell auf sicheren Füßen steht und zudem in den Kreisen der Wissenschaft allmählich immer mehr Aufmerksamkeit findet. Nun will er sich nicht länger ablenken lassen oder vielleicht auch nicht seinen Ruf schädigen. Das Londoner Magazin »Literary Gazette« wird uns gleich noch beschäftigen, wenn es um Wallace’ berühmten Sarawak-Aufsatz geht und darum, wie einer der wichtigsten Essays der Evolutionsbiologie entstanden ist.
Ende September kehrt Wallace aus Malaka zurück. Er ist dort erstmals an Malaria erkrankt, doch erholt er sich, nachdem ein Arzt ihn täglich einmal ordentliche Dosen an Chinin einnehmen lässt. Nach einer weiteren Woche ist Wallace wieder im Dschungel unterwegs. In seinem Reisebericht wird er solche Malaria-Attacken meist nur erwähnen, wenn sie zu etwas gut sind, allen voran jener in die Wissenschaftsgeschichte eingegangener Fieberschub einige Jahre später auf der Insel Ternate. Zunächst aber trifft er nun in Singapur den ihm aus London bereits bekannten Sir James Brooke. Der – charismatisch, schneidig, von einnehmendem Wesen und aus distinguiertem Haus – diente einst in der britischen Armee, hat sich mutig und geradezu nach Abenteuern süchtig im Fernhandel mit Asien versucht, bevor er durch glückliche Umstände zum friedensstiftenden, aber streng und selbstgerecht agierenden Herrscher über Sarawak aufstieg, wo er seit einigen Jahren residert. Brooke ist nicht unumstritten und beschäftigt mehrere Regierungskommissionen mit Untersuchungen zur Art seiner Regierungsführung. Einmal säubert er den Norden Borneos von Piraten, die die Region unsicher machen. Dazu verhandelt er mit der britischen Krone, die er um Unterstützung bittet; er vereinbart, dass diese für jeden Piraten eine Prämie zahlt. Als Brookes kleine Armee an Kopfjägern daraufhin mehr als fünfhundert Köpfe abliefert, fragt sich mancher, ob alle tatsächlich einem Piraten gehörten.
Keine Zweifel: Sir James Brooke, der erste »Weiße Raja«, ist eine komplexe Figur. Wallace wird ihn verehren und einen der hübschesten, sicher aber einen der größten Schmetterlinge nach ihm benennen – den grünschwarzflügeligen Ritterfalter Ornithoptera brookiana (der heute in die Gattung Trogonoptera gestellt wird). Nur zu gern lässt Wallace sich in Singapur überreden, nach Sarawak zu gehen, als James Brooke ihn erneut dorthin einlädt. Borneo ist noch weitgehend Terra incognita der Naturkunde. Ende Oktober schifft sich Wallace ein, kommt am 1. November 1854 in Sarawak an, wo er mehr als ein Jahr bleiben wird. Diese vierzehn Monate werden eine entscheidende Etappe seiner Reise durch den Archipel, während der er der Lösung der Artenfrage einen großen Schritt näher kommt – und nun endlich auch Darwin in den Blick rückt.
Sarawak. Oder:
Das Naturgesetz des Wandels
(November 1854 – Juni 1855)
»Note for Organic law of change«, steht da in einem Notizbuch, in dem Alfred Russel Wallace seine Gedanken zum Geheimnis der Geheimnisse festhält. Es sind Notizen, mehr noch: eine Skizze zu einem eigenen Buch über das Gesetz der belebten Natur, jenes »organic law«, das neue Lebensformen entstehen und sich verändern lässt. Ein Notizbuch als die Grundlage eines Werkes von Wallace zum Artenwandel, noch dazu Jahre vor Darwin, ist ein historischer Schatz – doch er wird lange nicht gehoben.
Um es gleich vorwegzunehmen: Wallace wird dieses von ihm geplante Artenbuch nie schreiben. Wäre sein Werk aber erschienen, es markierte nicht weniger als den Beginn der Evolutionsbiologie; einen Beginn, anders und früher als jener, den wir heute in Darwins Buch über »Die Entstehung der Arten« sehen, das drei Jahre später erscheint. Wie war das doch gleich: Geschichte kennt nur, was Geschichte ist. Aber das kleine Notizbuch – im Format 18 mal 11 Zentimeter, mit 135 Blättern meist beidseits beschrieben – ist der Beleg dafür, dass sich Alfred Russel Wallace bereits Mitte des Jahres 1855 in einem abgelegenen Regenwald am Sadong-Fluss im Norden Borneos mit dem Plan trägt, ein ganzes Buch über die Entstehung von Arten zu schreiben. Das Büchlein belegt es und ebenso kurze Hinweise darauf in zwei seiner Briefe. Vor allem aber erhellt es, wie Wallace nach einem Weg zur Lösung der Artenfrage tastet. Wallace’ Notizbuch wurde bisher meist übersehen; überschattet von dem, was kurz darauf auf der Molukken-Insel Ternate passiert. Dass Wallace dieses Buch
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