Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
besonderes Kapital dargestellt hatten, war dies auch ein Übergriff gewesen, der sie tief gedemütigt und gekränkt haben mußte. Eine grausame Verletzung der Grenzen, die zwischen Menschen eingehalten werden mußten, weil ihr Ignorieren unerträglich wäre. Was er getan hatte, kam gleich nach einer Vergewaltigung. Vielleicht empfand es Geraldine sogar als ebenbürtig.
Plötzlich unangenehm frierend, schloß er das Fenster. Er mußte überlegen. Es war nicht so, daß er sein Tun bereut hätte, denn es hatte zumindest Klarheit in die sogenannte Beziehung zwischen
ihm und Geraldine gebracht, und nun, da es passiert war, ging ihm erst wirklich auf, wie unerträglich die letzten Wochen für ihn gewesen waren, wie unaufschiebbar das Ende. Aber erstmals an diesem Abend dämmerten ihm die Konsequenzen.
Sie würde zur Polizei gehen. Oder direkt jenen Superintendenten Sowieso - er hatte den Namen vergessen - in Yorkshire anrufen. Sie würde ihre Aussage zurückziehen und ihm damit das Alibi nehmen. Sie würde berichten, wie heftig er sie bedrängt hatte, ihre Angaben in seinem Sinn zu machen, und er würde verdächtiger dastehen denn je.
Er schaute auf die Uhr. Es war kurz nach halb elf. Es mußte etwa eine Stunde her sein, seitdem Geraldine die Wohnung verlassen hatte.
Im Prinzip konnten hier jeden Moment die Bullen auftauchen.
Es blieb ihm keine Zeit, das Für und Wider abzuwägen: Machte er sich durch Flucht noch verdächtiger? Wäre es vernünftiger zu bleiben? Würde Geraldine überhaupt zur Polizei gehen? Oder morgen wieder heulend bei ihm auf der Matte stehen und eine Aussprache verlangen? Egal. Wenn er nicht schnell verschwand, konnte es ihm passieren, daß er den Rest der Nacht in Polizeigewahrsam würde verbringen müssen.
Er warf das Handtuch, in das er noch immer gehüllt war, in eine Ecke, schlüpfte in frische Wäsche, Jeans, ein graues Sweatshirt. Er zog seine Segeltuchtasche aus dem Schrank, warf ein paar Sachen zum Wechseln hinein, dazu seine Zahnbürste, Zahnpasta, das Portemonnaie mit seinen mageren Ersparnissen, die eigentlich für die Deutschlandreise gedacht gewesen waren. Er hatte keine Ahnung, wohin er wollte. Es war nur wichtig, zunächst einmal unterzutauchen.
Alles war sehr schnell gegangen. Um zehn vor elf verließ er die Wohnung. Er trug Turnschuhe und über dem Sweatshirt eine verschrammte Lederjacke. Er fand, daß er sehr unauffällig aussah. Aber wenn sie nach ihm suchen würden, war er nirgendwo sicher. Nicht im Zug, nicht im Bus, in keiner Pension.
Jetzt nicht darüber nachdenken, ermahnte er sich, erst mal sehen, daß du wegkommst.
Wie immer war das Treppenhaus nur spärlich beleuchtet, dennoch entdeckte er im trüben Schein einer der wenigen intakten Glühbirnen einen Lippenstift auf einer Stufe und einen Tampon auf einer anderen. Zweifellos Utensilien aus Geraldines Handtasche, die sie übersehen hatte.
Er huschte hinunter, trat auf die Straße. Es regnete noch immer, keine Menschenseele war zu sehen. Er atmete leichter. In den letzten Minuten war ihm das Haus wie eine Falle vorgekommen, dort oben in seiner Mansarde hätte es für ihn keinen Fluchtweg gegeben. Aber jetzt war er draußen, und noch war die Polizei nicht zu sehen.
In normalem - in unauffälligem - Tempo schlug er den Weg in Richtung U-Bahn-Station ein.
13
Sie war fast erleichtert, ihn so zu sehen. Mitten in der Nacht, angetrunken, nach Schweiß riechend, mit ungekämmten Haaren. Er schien elend und verzweifelt und haltlos und erfüllte damit die Vorstellung, die man sich nun einmal machte von einem Mann, dessen gesamte Familie vier Wochen zuvor in einem abscheulichen Blutbad gewaltsam ausgelöscht worden war. Der gutaussehende, um Jahre verjüngte Mann, den er noch zwei Abende zuvor abgegeben hatte, hatte Jessica mit Grauen erfüllt. Dieser hier beschwichtigte den furchtbaren Gedanken eines Verdachts, der tief in ihrem Inneren leise keimte und von dem sie ständig fürchtete, er werde sich irgendwann nicht mehr verdrängen lassen.
Nun begriff sie: Für eine vielleicht sehr lange Zeit würde Leon wie ein Grashalm im Wind schwanken. Zwischen euphorischen Neuanfängen und tiefstem Katzenjammer, zwischen dem Gefühl,
von einer Last befreit worden zu sein, und dem Bewußtsein, einen grausamen Verlust erlitten zu haben. Es war seine Art, die Zeit danach zu leben.
Sprach es ihn frei von jeglichem Verdacht?
So wenig wahrscheinlich, wie ihn jedes andere Verhalten zwangsläufig hätte verdächtig erscheinen lassen
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