Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
müssen. Im Grunde gab es keinerlei Anhaltspunkte, die für die eine oder die andere Möglichkeit sprachen. Es gab keine Richtlinien für das Verhalten eines Mannes, dessen Familie ermordet worden war.
Jessica hatte gezögert, die Haustür zu öffnen. Sie war wieder spät ins Bett gegangen, es war fast ein Uhr gewesen, und es hatte eine Weile gedauert, bis sie hatte einschlafen können. Das Klingeln hatte sie geweckt, und im ersten Moment hatte sie geglaubt, es sei der Wecker. Doch dann klingelte es erneut, und es kam eindeutig von der Haustür, und außerdem war es kurz nach zwei Uhr. Nicht die Zeit für morgendliches Aufstehen.
Barney, der in seinem Körbchen neben dem Bett lag, hatte den Kopf gehoben und knurrte leise. Nun stand er auf und lief eilig aus dem Zimmer. Jessica konnte das Tappen seiner Pfoten auf der Treppe hören. Sie erhob sich und ging ebenfalls nach unten.
Es mochte gefährlich sein, nachts um zwei Uhr die Haustür zu öffnen, aber sie sagte sich, daß Einbrecher wohl kaum klingeln würden. Außerdem war Barney wieder ein ganzes Stück gewachsen und würde durchaus schon einen gewissen Schutz darstellen.
Leon trat ins Haus. Er roch nach Alkohol, war aber nicht so betrunken, daß er geschwankt oder gelallt hätte.
»Ich war noch in einer Kneipe«, erklärte er. »Habe ich dich geweckt? «
»Es ist zwei Uhr nachts!«
»Oh!« Er schien nicht wirklich bestürzt, hatte wohl aber eine Ahnung, daß man ein wenig Bedauern zeigen mußte, wenn man mitten in der Nacht bei einem anderen Menschen ins Haus platzte. »So spät? Das wußte ich gar nicht.«
Er sah elend aus, hatte noch stärker abgenommen, und die tiefen Schatten unter seinen Augen verrieten, daß er wenig schlief und viel grübelte.
»Leon«, sagte Jessica vorsichtig, »ich hatte dir doch neulich bei meinem Besuch erklärt, daß …«
Er war immerhin nüchtern genug, sofort zu wissen, wovon sie sprach. Er machte eine abwehrende Handbewegung, die nur ansatzweise fahrig ausfiel. »Das habe ich begriffen. Wirklich, Jessica, ich habe begriffen. Genauer gesagt, ich habe es nicht nur begriffen, ich respektiere deine Haltung auch. Voll und ganz. Was mich betrifft, so gibt es keinerlei Verstimmung zwischen uns!«
»Schön«, sagte Jessica, »was mich betrifft auch nicht.«
Nachdem dies geklärt war, sahen sie einander etwas unschlüssig an.
Schließlich senkte Leon den Kopf und sagte leise: »Ich wußte nicht, wohin ich gehen sollte.«
»Du wolltest nicht nach Hause?«
»Es ist …, es ist so still dort. So leer. Irgendwie …«, er hob hilflos die Schultern, »irgendwie habe ich das Alleinsein noch nicht gelernt.«
Sie wußte, daß sie ihn nicht fortschicken konnte.
»Geh ins Wohnzimmer«, sagte sie, »ich mache einen Tee.«
»Hast du Whisky?«
»Ich glaube, Tee ist jetzt besser.«
Er nickte ergeben.
»Ich will dir aber keine Umstände machen«, sagte er. »Sicher hältst du mein Benehmen für völlig unmöglich.«
Sie schüttelte den Kopf. »Angesichts dessen, was passiert ist, halte ich es für ziemlich normal«, meinte sie.
Während er ins Wohnzimmer ging, machte sie in der Küche Wasser heiß, holte zwei Becher aus dem Schrank, hängte Teebeutel hinein, stellte alles zusammen mit einer Zuckerdose auf ein Tablett. Sie spürte keine Müdigkeit. Ihr Schlaf war oberflächlich gewesen. Wie immer in der letzten Zeit.
Leon saß zusammengekauert auf dem Sofa. Sie stellte seinen Tee vor ihn hin.
»Laß ihn noch eine Weile ziehen«, sagte sie.
Er sah sie an. Ihr wurde bewußt, daß sie wenig anhatte, nur ein übergroßes T-Shirt von Alexander, das knapp ihre Oberschenkel bedeckte. Sie hätte sich ihren Morgenmantel holen müssen, aber die Hitze des vergangenen Tages staute sich noch im Raum, und sie fühlte sich leicht bekleidet wohler.
Was ist schon dabei, dachte sie.
»Es gibt Tage«, sagte Leon, »da denke ich, daß ich alles im Griff habe. Dann plötzlich bricht alles wieder zusammen. Und dann merke ich, daß es nur eine Illusion war. Daß der Schmerz sich schlafen gelegt hatte und ich so dumm war zu denken, er sei gegangen. Ich wußte das vorher nicht. Wußtest du das?«
»Was?«
»Daß Schmerz Schlaf braucht. Daß er einen gar nicht dauernd quälen kann. Ab und zu wird er richtig müde. Und dann denkt man: Er ist weg. Er wird nicht wiederkommen. Das Leben ist neu. Aber es ist ein Irrtum. Einfach nur ein gigantischer Irrtum.«
»Trotzdem wird der Schmerz weniger. Ganz gleich, wie oft er sich schlafen legt, er verliert
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