Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
Rezeption ist niemand«, sagte sie anstelle einer Begrüßung, »und da dachte ich, ich schaue mal nach, ob Sie vielleicht beim Frühstück sind. Ich habe wirklich Glück - so früh am Morgen! «
»Setzen Sie sich«, sagte Jessica, »möchten Sie eine Tasse Kaffee? «
Gloria schüttelte den Kopf, nahm aber den angebotenen Platz. »Danke. Ich kann nur kurz bleiben. Mein Mann …«
»Sie pflegen ihn ganz allein?«
»Mein Sohn und meine Tochter helfen mir. Aber beide haben sehr viel mit der Farm zu tun, und letztlich bin ich dann doch oft nur auf mich gestellt. Es ist sehr schwer … er kann ja praktisch nichts mehr allein tun. Und er ist völlig verwirrt. Man kann ihm nichts erklären. Es ist alles … sehr schwer.«
Jessica sah die verhärmte Frau mitfühlend an, wartete dann, was kommen würde, obwohl sie es ahnte.
Gloria Mallory senkte den Kopf. » Mein Sohn weiß nicht, daß ich hier bin. Wahrscheinlich wäre er sonst sehr böse auf mich. Aber es hat mir keine Ruhe gelassen …«
»Ricarda ist bei Ihnen?« fragte Jessica.
Gloria nickte. »Sie kam gestern, wenige Stunden bevor Sie sich nach ihr erkundigt haben. Völlig erschöpft, am Ende ihrer Kräfte. Sie hat sich mit den verschiedensten Verkehrsmitteln und am Ende zu Fuß zu Keith durchgeschlagen. Als Sie bei uns waren, schlief sie.«
Jessica streckte den Arm über den Tisch, drückte kurz die Hand der anderen Frau. »Danke, Mrs. Mallory. Danke, daß Sie es mir gesagt haben.«
»Ich kann mir gut vorstellen, was Ricardas Mutter und Sie durchgemacht haben. Ich habe selbst Kinder. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, und heute früh war mir klar, daß ich Sie wissen lassen muß, daß es Ricarda gutgeht.«
»Kann ich mit ihr sprechen?«
Gloria zögerte.
»Ich will sie nicht gegen ihren Willen mit nach Hause nehmen«, sagte Jessica rasch. »Ich will sie überhaupt zu nichts drängen. Ich möchte ihr nur sagen, daß ihr alle Wege offenstehen und daß sie sich Zeit nehmen soll zu entscheiden, was sie tun will.«
»Ich glaube«, sagte Gloria, »daß sie meinen Sohn sehr liebt. Und Keith erwidert ihre Gefühle.«
»Das ist das beste, was Ricarda in ihrer jetzigen Situation passieren kann. Ist es Ihnen denn recht, wenn sie, zumindest vorläufig, bei Ihnen wohnt?«
»Ich kenne sie kaum. Aber sie scheint meinen Sohn glücklich zu machen. Daher ist es in Ordnung.«
Jessica stand auf. »Ich ziehe andere Schuhe an. Dann fahre ich mit Ihnen zu Ihrer Farm.«
»Nun …«
»Bitte.«
»In Ordnung«, sagte Gloria ergeben.
Sie hatte für Evelin einen Zettel geschrieben und unter ihrer Tür hindurchgeschoben. Bin noch mal zu Ricarda unterwegs. Werde mittags zurück sein!
Sie hatte ihre Turnschuhe angezogen und eine Jacke um die Schultern gehängt, denn der strahlende Morgen war noch recht frisch. Ihre Handtasche mit dem Handy darin hatte sie dabei, sie war also jederzeit für Evelin zu erreichen.
Gloria Mallory fuhr einen völlig verrosteten Jeep, den man auf den ersten Blick eher auf einem Schrottplatz als auf einer Landstraße vermutet hätte.
»Wollen Sie nicht lieber Ihr Auto nehmen?« fragte sie. »Ich meine, für den Rückweg?«
»Zurück werde ich laufen«, erwiderte Jessica. »Ich wollte heute sowieso eine Wanderung unternehmen.«
Der Himmel hatte ein beinahe gläsernes Blau angenommen, und die Luft fühlte sich an wie glatte, kühle Seide.
»Es ist ein wundervoller Tag«, sagte Jessica.
Gloria nickte. »O ja. Wir haben hier in Yorkshire sehr häufig schlechtes Wetter, aber dazwischen gibt es Tage wie diesen, und irgendwie versöhnen sie einen wieder.« Sie warf Jessica einen Blick von der Seite zu. »Wann kommt Ihr Baby?«
Sie schaut genau hin, dachte Jessica. »Im Oktober«, antwortete sie.
»Es ist eine schwere Zeit für Sie, oder? Ich meine, nach allem, was war … dort in Stanbury House …«
»Ich glaube, ich habe es immer noch nicht wirklich realisiert«, sagte Jessica. »Manchmal denke ich, ich werde es nie ganz begreifen, was da über mein Leben hereingestürzt ist. Und manchmal habe ich Angst, daß ich irgendwann ganz plötzlich zusammenbrechen werde. Und daß dann der eigentliche Alptraum erst beginnt.«
»Sie müssen stark sein für Ihr Kind.«
»Ich weiß.«
»Was wird aus Stanbury House?«
Jessica zuckte mit den Schultern. »Mir gehört da nichts. Der Mann, der es jetzt geerbt hat, hat seine ganze Familie bei dem … Unglück verloren. Er ist dabei, sein Leben auf die Reihe zu bringen.«
Wieder hatte sie plötzlich
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