Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
nachdenken, auch wenn er von der verhaßten Stiefmutter stammt: Mach dich nicht abhängig von Keith. Setze ein Jahr mit der Schule und mit allem aus, lebe hier mit ihm, schau dir das Leben auf einer Schaffarm in Yorkshire an. Behalte dir die Möglichkeit vor, in einem oder zwei Jahren vielleicht doch noch einen Schulabschluß zu machen und einen Beruf zu erlernen. Danach heirate Keith, gründe eine Familie. Aber schaff dir erst eine eigenständige Position. Irgendwann wirst du erkennen, wie wichtig das ist.«
»Bist du fertig?« fragte Ricarda.
Jessica seufzte. »Ja.« Sie machte eine hilflose Bewegung mit beiden Händen. »Ich denke, ich bin fertig. Das war alles, was ich dir sagen wollte.«
Ricarda erwiderte nichts. Jessica wartete noch einen Augenblick, aber es kam nichts mehr, und sie begriff, daß Ricarda nichts anderes wollte, als daß ihre Stiefmutter die Küche verließ und sich nicht länger in ihre Belange mischte.
»Leb wohl«, sagte sie, aber Ricarda antwortete nicht. Jessica drehte sich um und verließ die Küche. Sie eilte den düsteren Gang entlang und atmete auf, als sie wieder draußen in der Sonne stand. Ricardas Kälte war so greifbar gewesen, daß sie plötzlich bis ins tiefste Innere fror. Sie bemühte sich, das Frösteln, das Gefühl von Beklemmung abzuschütteln, aber es mochte ihr nicht recht gelingen.
Wenn ich ein Stück laufe, wird es besser, dachte sie.
Keith und seine Mutter waren beide nicht zu sehen, und so verzichtete Jessica darauf, sich zu verabschieden. Sie rief in Elenas Büro an, erfuhr jedoch, daß sich Elena in einer Besprechung befand. Sie bat um Rückruf, verstaute ihr Handy dann wieder in der Handtasche. Sie blinzelte in die Sonne. Sie war müde und bedrückt, und sie dachte, daß Laufen wahrscheinlich
wirklich die einzige Möglichkeit war, sich von dem Gefühl tiefster Niedergeschlagenheit zu befreien. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, daß es kurz vor halb neun war. Mittags, so hatte sie für Evelin hinterlassen, würde sie zurück sein.
Ihr blieb reichlich Zeit.
Sie setzte ihre Sonnenbrille auf und marschierte los.
9
Die steinerne Platte mochte sich nicht bewegen. Sosehr sie schob und zerrte, sie hatte sich um noch nicht einen Millimeter bewegt. Sie konnte doch nicht schwerer geworden sein in der Zeit, die seither verstrichen war? Oder war sie selbst schwächer?
Der Gestank war fürchterlich. Immer wieder drohte er ihr den Magen zu heben, mehr als einmal war sie dicht davor, sich zu übergeben. Die Wärme des Tages verschlimmerte alles. Wie hatte sie das damals ertragen?
Sie hielt einen Moment inne, richtete sich leise stöhnend auf, preßte die Hand ins schmerzende Kreuz. Ihr schwarzes Jeanshemd klebte am Körper und war völlig naßgeschwitzt. Einen Moment lang drohte Panik sie zu überwältigen, als sie daran dachte, daß es ihr vielleicht nicht gelingen würde. Daß sie aufgeben mußte. Daß sie es allein nicht schaffen würde.
Aber sie hatte es damals auch allein geschafft. Irgend etwas mußte sie anders gemacht haben.
Sie setzte sich ins Gras, atmete tief aus und ein, um sich zu beruhigen und Klarheit in ihre Gedanken zu bringen. Sie mußte überlegen. Ganz sicher gab es einen Weg.
Ein leichter, warmer Wind fächelte ein wenig Kühlung heran. Ein herrlicher, intensiver Blütenduft schwang darin mit.
Konnte es einen schöneren Tag als diesen geben?
Sie schloß die Augen.
10
Jessica merkte, daß sie ihre Kondition überschätzt hatte. Sie hätte den direkten Weg von der Farm zum Dorf einschlagen sollen, und selbst dann hätte die Wanderung sie erschöpft. Die Schwangerschaft machte sich bemerkbar, und hinzu kam, daß es inzwischen ein wirklich heißer Tag geworden war. Die Sonne stand jetzt hoch am Himmel, die feuchte Kühle des frühen Morgens hatte sich völlig aufgelöst.
Jessica war einen großen Bogen gelaufen und hatte den Ort aufgesucht, an dem sie Barney aus dem Wasser gefischt und Phillip Bowen zum erstenmal getroffen hatte. Zwischendurch hatte Elena zurückgerufen und tief erleichtert auf die Nachricht reagiert, daß sich Ricarda wohlbehalten auf Keith Mallorys Farm befand.
»Sie haben recht, ich werde vorläufig nichts unternehmen«, hatte sie gesagt. »Vielleicht kann ich irgendwann mit Ricarda telefonieren. Oder sie sogar besuchen. Ich bin so froh, daß es ihr gutgeht! Ich danke Ihnen, Jessica! Ich werde Ihnen das nie vergessen! «
Nun saß Jessica auf dem Hügel im Gras und blickte über das Tal zu ihren Füßen, sah den kleinen
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