Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
steckt, dachte sie.
Ob er eine Ferienreise machte? Aber dafür dürfte er kaum das nötige Geld haben.
Sie beschloß, daß Leon nicht ihr Problem sein sollte. Sie legte das Handy auf den Beifahrersitz, startete ihren Wagen.
Evelin wartete.
Sie fragte sich, ob sie und Evelin in der Lage sein würden, miteinander zu sprechen. Oder ob sie das Schweigen fortsetzen würden, das stets zwischen ihnen geherrscht hatte.
7
Er stand an genau derselben Stelle, an der er vier Wochen zuvor neben Evelin gestanden hatte. An der Stelle, von der aus er zuletzt einen Blick auf das Haus geworfen hatte. Alles war wie in seiner Erinnerung, nichts hatte sich geändert. Nur das Gras im Garten war hoch gewuchert, zu einer wilden Wiese war es geworden. Steve, der Gärtner, war sich wohl nicht mehr sicher, ob seine Dienste noch erwünscht waren, oder aber ihm war jede Ambition, dieses Grundstück zu betreten, ein für allemal vergangen.
Aber sonst - was hätte sich auch ändern sollen? Irgendwo hatte man vielleicht die irrationale Vorstellung, es müsse einem Haus anzusehen sein, wenn sich eine solche Tragödie zwischen und vor seinen Mauern ereignet hatte, aber natürlich schien es völlig unberührt von dem Geschehen. Friedlich lag es im Schein
der Morgensonne, voller Ruhe und Harmonie. Er kannte jeden Schornstein, jedes Fensterkreuz, jede bröckelige Ecke an der Balustrade. Nichts war anders geworden.
Alles war anders geworden.
Er sah das Haus an mit einer tiefen inneren Verzweiflung, mit dem Schmerz eines Liebenden, eines Besessenen, der weiß, daß er das Objekt seiner Liebe, das Objekt seiner Besessenheit loslassen muß, wenn er nicht untergehen will. Er war hergekommen, um Abschied zu nehmen, und nun brach ihm dieser Abschied fast das Herz. Denn jenseits dessen, was er nun verlieren würde, lag das vollkommene Nichts, die absolute Sinnlosigkeit. Er hatte nicht die geringste Vorstellung, wie er damit leben würde können.
Der Morgen war so schön, wie nur ein Maimorgen sein kann, voller Klarheit und Frische und dem Versprechen auf einen wunderbar warmen, sonnigen Tag. Noch lag Feuchtigkeit über den Gräsern, und die Blätter der Bäume glänzten vom Tau, aber die Luft war bereits mild und der Himmel von einem tiefen Blau.
Jemand, dachte er, sollte durch die Tür auf die Veranda treten und einen Frühstückstisch dort decken, und dann sollte sich eine Familie dort versammeln, eine große, lebhafte Familie, und ein paar Hunde sollten herumspringen und laut bellen.
Es war ein eigenartig heftiger Wunsch in ihm, das Bild vor seinen Augen zu beleben, Haus und Garten mit Gesichtern und Stimmen zu füllen, und zugleich wußte er, daß ihm dies in der Wirklichkeit nie gelingen würde. Selbst wenn er eine Chance hätte, das Haus zu bekommen, oder man ihm zumindest das Recht würde einräumen müssen, dort zeitweise zu wohnen, würde er doch nicht fähig sein, eine Familie zu gründen und dort auf der Veranda zu sitzen und zu frühstücken und seine Frau und seine Kinder und seine Hunde zu betrachten und Pläne zu schmieden für den Tag. Er war nicht dafür geschaffen. Es würde ihm nicht gelingen, ganz gleich, wie sehr er es ersehnen mochte.
Und er würde auch seinem Vater nicht näherkommen. Sein
Vater war tot. Sein Vater konnte ihm nichts mehr sagen. Die Wände seines Hauses würden nicht für ihn sprechen.
Er sah es auf einmal glasklar, sah sich selbst glasklar: einen langsam alternden Mann, einsam und verloren in einem großen Haus, auf der Suche nach einem Toten, während das Leben mit unnachsichtiger Unbeirrbarkeit ablief.
Was hatte diese Suche nach dem Toten schon mit ihm gemacht? Wozu hatte sie ihn verleitet? In welche Lage hatte sie ihn gebracht?
Er war so müde. So hungrig. Gehetzt, gejagt, in die Enge getrieben. Zu spät erkannte er, wie trügerisch der Sinn gewesen war, den er seinem Leben zu geben geglaubt hatte, als er seinen Kampf um Kevin McGowan begann. Und obwohl als Täuschung entlarvt, würde ein schwarzes Loch dort bleiben, wo einst der Kampf geführt worden war. Ein Abgrund, vor dem ihm schauderte, und in den er doch blicken mußte, in den er würde hinabsteigen müssen. Denn dieser Abgrund war sein Leben.
Sein verpfuschtes, verkorkstes, zur Hälfte verstrichenes Leben. Und doch das einzige, das er hatte.
Er hatte als Schauspieler gearbeitet und dachte manchmal in den dramaturgisch angeordneten Sequenzen eines Theaterstücks oder Films, und er fand, dies war der Moment, in dem er laut Anweisung der Regie
Weitere Kostenlose Bücher