Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
zitternden Beinen, wie man sehen konnte. Ich griff mir einen zweiten Teilnehmer, einen jungen Mann, der überdimensionale Henkelohren hatte, die der Grund für seine Kontaktschwäche sein mochten. Er wand sich ebenfalls vor Entsetzen, schien aber nicht so verzweifelt zu sein wie Evelin. Die beiden quälten sich durch die Aufgabe, die ich ihnen stellte, und ich beobachtete sie - das heißt, offen gestanden beobachtete ich eigentlich nur Evelin. Sie faszinierte mich ungemein.
Sie war damals, vor zwölf Jahren, eine recht attraktive Person. Zwanzig Jahre alt, blond, sehr schlank. Sie hatte hübsche Beine und hätte etwas aus sich machen können, wenn sie nicht immer mit diesem Bitte-friß-mich-nicht-Gesichtsausdruck herumgeschlichen wäre. Andererseits hätte sie mich dann zweifellos nicht so erregt. Auch nicht so wütend gemacht. Sie wäre mir wahrscheinlich überhaupt nicht aufgefallen. Selbstsichere
Frauen haben mich nie interessiert, da ist eine im Grunde so langweilig wie die andere.
Evelin schwitzte ganz furchtbar während des Rollenspiels. Unter ihren Armen breiteten sich immer größere nasse Flecken auf dem Stoff ihres grauen Pullovers aus. Ihr Gesicht war puterrot und glänzte. Sie war den Tränen nahe.
Ich bekam plötzlich Angst, ich könnte zu weit gegangen sein. Wenn sie nach dieser Erfahrung nun nie wieder in mein Seminar kam? Deshalb rief ich sie am Ende der zwei Stunden noch einmal zu mir. Während die anderen schon zur Tür hinausströmten, trat ich ganz dicht an Evelin heran und nahm ihre rechte Hand in meine beiden Hände. Sie schwitzte immer noch stark.
»Evelin, ich weiß, das war heute sehr schwierig für Sie«, sagte ich sanft und sah sie eindringlich an. »Aber Sie sind eindeutig die Teilnehmerin mit den größten Problemen, das habe ich sofort bemerkt. Deshalb kümmere ich mich verstärkt um Sie. Verstehen Sie das?«
Sie nickte und kämpfte mit den Tränen.
Ich bemühte mich, von dem Widerwillen gegen die glitschige, schlaffe Hand, die wie ein halbtoter Fisch zwischen meinen Fingern zuckte, nicht überwältigt zu werden.
»Sie sollten keinesfalls aufgeben. Ich denke, Sie befinden sich in einer sehr schwierigen Lebenssituation, und es ist sehr entscheidend für Sie, gerade jetzt die richtigen Weichen zu stellen.«
Sie konnte mir kaum in die Augen sehen. Natürlich hatte sie bereits beschlossen, nie wieder dieses schreckliche Seminar zu besuchen.
»Was hat Sie veranlaßt, hierherzukommen?« fragte ich sachlich.
»Mein … mein Therapeut«, antwortete sie mit Piepsstimme. »Er meinte, ich solle versuchen, mich mehr unter Menschen zu begeben. Ich habe ihm gesagt, daß das schwierig ist, weil mir andere Menschen angst machen. Sie sind so selbstsicher und stark… und, na ja, wir haben dann gemeinsam überlegt, daß es
vielleicht ein guter Anfang wäre, mich Menschen anzuschließen, die ähnliche Probleme haben wie ich. Dann fiel mir ein Prospekt über dieses Seminar in die Hände, und…«
»…und da beschlossen Sie, den Stier bei den Hörnern zu packen. Ein großer, ein mutiger Schritt. Wäre es nicht zu schade, wenn wir jetzt gleich wieder schwach würden?« Ich drückte ihre Hand ein wenig. Ich lächelte sie an. Sie sehnte sich nach Wärme und Zuwendung, ja sie verzehrte sich geradezu danach. Ich hatte gewonnen, wenn sie zu der Überzeugung gelangte, von beidem etwas bei mir finden zu können.
Tatsächlich kam sie wieder. Ich ließ sie ein paar Stunden lang völlig in Ruhe, obwohl es mir ungeheuer schwerfiel, aber sie sollte sich sicher fühlen. Als ich deutlich merkte, daß sie sich entspannte, setzte ich sie, für sie völlig unerwartet, in einer sehr schwierigen Übung ein. Sie kam überhaupt nicht zurecht und empfand den Vorgang als wahnsinnig blamabel, wie sie mir später unter Tränen erzählte. Ich aber lobte sie, sagte ihr, daß ich sehr zufrieden mit ihr sei, und lächelte ihr gelegentlich während der Seminarstunden zu. Sie fing an, mein Lächeln zaghaft zu erwidern. Es war passiert, was ich beabsichtigt hatte: Sie brauchte mich, sie machte mich zum emotionalen Mittelpunkt ihres Lebens.
Wir heirateten im Juli 1992, also fast eineinhalb Jahre nach unserer ersten Begegnung. Leon und Alexander fungierten auf meine Bitte hin als Trauzeugen. Sonst war niemand anwesend. Evelin hatte keine Freunde, und sie hatte auch keine Familie mehr. Ihr Vater sei vor Jahren an einem Infarkt gestorben, hatte sie mir erzählt, und ihre Mutter habe mit diesem Schicksalsschlag nicht fertigwerden
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